Eine Tiefenperspektive wie auf einem Bild der Renaissance, sagen wir von Sandro Botticelli: Im Vordergrund ziehen Konflikte zunächst das ganze Augenmerk auf sich. Durch hohe erhabene Torbögen aber blickt man auch in eine wilde und weite Landschaft hinaus, wo eine dünne weiße Gestalt in der Ferne davon schreitet.
Wann hat man ein ähnliches, so reales wie magisches Bühnenbild gesehen? Aber nicht genug damit: Kurz darauf steigen aus dem Tal dichte weisse Nebelschwaden herauf, verschlucken die Gestalt, einen Seher, dringen näher und machen erst kurz vor der Bühne halt.
Selbst wenn das Wetter bei der zweiten Aufführung dieses ungewöhnlichen Theaterereignisses nicht freundlich mitspielte und es nicht so warm und windstill war wie bei der Premiere am Abend zuvor, wenn der Himmel im Gebirge sogar mit Regen und Blitzen reagierte, so wirkte diese Kulisse doch atemberaubend spektakulär. Besser könnte es Hollywood nicht inszenieren.
Wer würde es auch wagen: in den Bergen auf über 2200 Metern ein 700 Sitze fassendes temporäres Festspielhaus zu bauen und dort modernes Musiktheater zu spielen? Außer dem Festival Rümlingen, das 2005 gleich fünfzig Überseecontainer auf einen Jurahügel transportieren ließ, um dort zeitgenössische Musik aufzuführen, gibt es in der Schweiz darauf nur eine Antwort: das Bündner Festival Origen, das längst schon viel mehr als ein Geheimtipp und das in den nächsten Jahren weiter expandieren möchte.
Diesen Sommer spielt es so auf der Julierpasshöhe das neue Stück „La Regina da Saba“. Der Ort zwischen den Tälern Surses und Engadin – und nahe dem Himmel, wie Festivalgründer und -leiter Giovanni Netzer sagt – ist geeignet für eine hoch bedeutende Begebenheit: die Begegnung zwischen König Salomon und der Königin von Saba. Ein Dutzend Verse nimmt dieses Treffen je im Buch der Könige und der Chronik ein; aber sie hat in den Erzählungen vieler Völker, auf oft mythische Weise, ihren Niederschlag gefunden. Bekannt ist sie freilich eher in jener Salomon preisenden Fassung, wie sie auf vielen Gemälden zu sehen ist und 1959 auch mit Yul Brynner und Gina Lollobrigida verfilmt wurde.
Giovanni Netzer, der schon in den vergangenen Jahren biblische Themen ins Zentrum des Origen-Festivals stellte (Inferno, Schöpfung, Samson), behandelt diese Begegnung nun auf eigenwillige Weise. Die Passhöhe allein ist höchst eindrücklich, sie versetzt einen in eine archaische Umgebung, sie setzt einen tatsächlich Wind und Wetter aus. Aber dieses Naturspektakel ist nur ein Teil der Darstellung. Gewiss ist Giovanni Netzer Theatermann genug, um das Optische gebührend zu betonen. Allein die wunderbaren Kostüme, die Martin Leuthold und Deniz Ayfer Ümsu mit Stoffen des berühmten St. Galler Textildesigners Jakob Schläpfer angefertigt haben, verdienen besondere Aufmerksamkeit.
Der Berliner Lorenz Dangel, mittlerweile Origen-Hauskomponist, hat mit verfremdeten barocken Festmusiken (Händel) und oft gewaltigen Geräuschen eine Klangkulissse hergestellt, die Pomp und Naturgewalt verbindet. Aber es geht hier nicht nur um ein Spektakel und um schöne Musik wie sonst oft bei Freilichttheatern. Gleichzeitig nämlich findet eine Vertiefung auf mehreren Ebenen statt.
Das zentrale Musiktheaterstück ist beim Origen Festival Cultural seit der Gründung vor fünf Jahren jeweils von weiteren Produktionen umgeben, die das Thema von anderen Seiten beleuchten. So auch heuer: In Konzerten erklingen Hohe-Lied-Vertonungen. In der karolingischen Kirche von Mistail werden sonntags frühmorgens Laudes gesungen; auf der Burg Riom schließlich, die der Stararchitekt Peter Zumthor in den nächsten Jahren für das Festival umbauen will, gibt es spätabends Nocturnen.
Dort sind aber auch nachmittags in einer Ton-Installation verschiedene, aus nichtbiblischen Quellen stammende Texte zur Königin von Saba zu hören, so dass man sich umfassend informieren kann. Schließlich hat eine Schauspieler-Gruppe unter der Regie von Fabrizio Pestilli eine spritzige polyglotte Commedia-Version der Geschichte: „Makeda“ entwickelt; diese herrlich humorvolle und hintersinnige Parodie des biblischen Stoffs, die den Stoff beim Wort nimmt, wird auf einer kleinen Bühne durch den Kanton Graubünden touren und das Thema so unter die Leute bringen.
Dergestalt war gleich mehrfach und bestens vorbereitet, wer sich dann auf den Julierpass hinauf begab. Dort wurde „La Regina da Saba“ textlos dargeboten: tänzerisch-mimisch – und höchst dramatisch. Durch das Fehlen der Worte wurde die Körperlichkeit zusätzlich betont. Es spielten junge, noch ungleich erfahrende Studierende. So war zuweilen eine gewisse Ungeschliffenheit spürbar (Origen setzt sowohl auf Nachwuchs- als auch auf einheimische Kräfte), aber gerade das machte auch den besonderen Reiz aus: Die Intensität ließ einen über fünfviertel Stunden nicht los.
Netzer zeigt den Prunk dieser Begegnung und ihre eigentümliche Erotik, aber auch die entstehenden Konflikte. Er erzählt weiter, was in der Bibel allenfalls angedeutet ist: Dass nach dem Besuch der Königin das Reich Salomons in eine Krise geriet und der Dekadenz verfiel, dass verschiedene Familienmitglieder intrigierten. Im Buch der Könige heißt es zwar, Salomo sei nach vierzig Jahren Regentschaft entschlafen. Bei Origen aber wird er bei einer Palastrevolution getötet. Ein grausamer Schluss, angesichts der von draussen ständig drohenden Naturgewalten freilich nur folgerichtig.
Origen Festival Cultural: 2. Juli - 13. August 2010
Auf dem Julier-Pass: La Regina da Saba
Premiere 16. Juli, weitere Termine: 23./24./27./28./30./31. Juli, 3./4./6./7. August