Im ursprünglichen Spielplan standen für Ende Oktober am Theater Altenburg Gera Wiederaufnahmen von „Spamalot“ und „Der Vetter aus Dingsda“. Uraufführungen von Sarah Nemtsov und Steffen Schleiermacher in den Philharmonischen Konzerten, auch die Ballettpremiere „Das Lied von der Erde“ werden verschoben. Dafür zeigt Generalintendant Kay Kuntze vor der für Kultureinrichtungen desaströsen Corona-Schließzeit ab 2. November zwei Kammerkurzopern-Klassiker des 20. Jahrhunderts. Der Boom von Francis Poulencs und Jean Cocteaus „Die geliebte Stimme“ (aktuell auch in Bremen, Hamburg, Dessau) geht also weiter, hier in Kombination mit Menottis Opera buffa „Das Telefon oder Die Liebe zu dritt“.
Der grüne (Stoff-)Papagei im goldenen Käfig schweigt. Aber Lucy schnattert. Und sie spitzt die Lippen. Beim Telefonieren macht sie riesige Stummfilm-Augen und melodramatische Gesten. Es kommt schon vor, dass sie physische mit Tele-Kommunikation verwechselt und zum von Gian Carlo Menotti komponierten Klingelton nach der Puderquaste greift. Der Satz „Ich muss jetzt Schluss machen“, den viele noch von ihren Müttern kennen oder in vordigitalen Zeiten selbst verwendet haben, gellt in den Ohren. Die Sopranistin Miriam Zubieta modelliert ihn aber im samtenem Mezzoforte. Sie gibt eine phantastisch aussehende „Woman in Red“ mit souveränen und kräftigen Stimmkapazitäten. Aber ihr Outfit ist mehr für die telefonische Hörbühne bestimmt als für den Verehrer Ben. In Gian Carlo Menottis Oper aus dem Jahr 1947 für das Heckscher Theatre hat Lucy lange nur für die fernen Fon-Partnerinnen Melodien. Aber den Mann, der ihr vor seiner Abreise etwas Lebenswichtiges zu sagen hätte, fertigt sie ab mit dürren Rezitativen.
Delikat inszeniert Kay Kuntze alle jetzt anachronistischen, doch vor siebzig Jahren vielleicht noch zutreffenden Vorurteile über „Frauen und das Telefon“. Wer verspürte kein Mitleid mit Ben, dessen Rehaugen machtlos sind gegen den schwarzen Wählscheiben-Tyrann und die von Lucy wortreich zerlegten Privatsensationen? Alejandro Lárraga Schleske ist ein zum Schweigen verdammter Rosenkavalier und verteilt an seinen wenigen aussagekräftigen Stellen, die ihm Menotti zugesteht, vokale Sahneschnitten. Trotzdem ist dieser pausenlose 75-Minuten-Abend eine legitime usurpatorische Selbstermächtigung der beiden Sängerinnen. Es wurde ein genüsslicher und melodramatischer Abend, der Corona und die nationale Digitalisierungsmisere zum Glück nicht berührte. Das war keine Vermeidungsstrategie, denn Analogien der beiden Opern zu heute lassen sich unaufdringlich dazudenken.
Das Theater Gera als Boulevardbühne: Elena Köhler stellte auf dem abgedeckten Orchestergraben ein feines Ameublement zusammen – Standuhr und massive Pflanzenständer, nach deren gedrechseltem Holz Poulencs Protagonistin später wie eine Ertrinkende greifen wird. Wichtigstes Dekor ist eine Ottomane, auf der es nie zum Vollzug kommt von dem, was sich Kenner*innen galanter Literaturen ausmalen.
Erst in Francis Poulencs Mono-Oper beginnen die fürwahr existenziellen Zersetzungen und Entgrenzungen. Jetzt ist alles mit weißen Tüchern abgehängt, zwei Herren mit Zylinder transportieren die Möbel ab. Zurückbleiben der graue Himmel, gefasstes Stammeln der Primadonna und große Worte in Projektionen. Poulencs und Cocteaus einsame und in der Verhärmung fast noch schönere Frau versinkt schließlich mitsamt Fragmenten aus Gesagtem und Ungesagtem im Orchestergraben. Jean Cocteaus in Beziehungshackfleisch zertrümmerte Sprache der Liebe nahm bereits 1959 an der Pariser Opéra-comique fast alles aus Roland Barthes‘ berühmten Essay von 1977 vorweg. Die Interpretin muss nicht nur das verborgene Leid über das Ende einer Beziehung erspielen, sondern auch das vom Ex-Partner ins Telefon gesprochene Unhörbare. Anne Preuß ist eine packend intensive Sängerpersönlichkeit: Sie durchbebt die implodierenden Schreie hinter Poulencs repetierenden Rezitativ-Strophen. Sie klebt nicht am Hörer und artikuliert mit dem Körper, vor allem mit der Stimme alles – auch das, was auf dem Weg von den Nerven zu den Lippen zerfließen und verhauchen soll. Natürlich geht es um körperliche Sehnsucht in der bleiernen Einsamkeit. Anne Preuß verwickelt sich im Kabel. Kein Abend der Synthese, sondern der Kontraste – musikalische Screwball comedy und Divendrama sollen nicht ganz zusammenfinden.
Der Dirigent Yuri Ilinov spricht selbst die von Menotti erforderte telefonische Zeitansage. Die mittelgroß wirkende Aufstellung des Philharmonischen Orchesters Altenburg Gera versteht sich bestens auf die instrumentalen Kommentarfunktionen beider Partituren. So kann Kuntze vor dem kräftig beschwingten Orchester mit Assoziationen an Magrittes Bilderwelten zur „Menschlichen Stimme“ fast schwarzes Theater machen. Davor entwickelt er in Menottis Komödie eine deutlichst strukturierte Studie von Suchtverhalten: Köstlich, wie Lucy erwartungsfroh auf ein erlösendes Klingelzeichen lauert und immer wieder nach dem attraktiven Telefon-Ungetüm schielt, dessen Draht Ben schließlich mit der Gartenschere kastrieren will. Das gelingt ihm nicht einmal im auf den pastellfarbenen Vorhang projizierten Videos (René Grüner). Trotz halbem Happy-End bei Menotti, natürlich über Telefon, überspielt Kuntze für das in die zweite Corona-Schließzeit entlassene Premierenpublikum eine ironische Erkenntnis-Pille: Männer und Frauen passen einfach nicht zusammen – schuld ist nur das Telefon.
- Das Telefon oder Die Liebe zu dritt. Opera buffa in einem Akt. Libretto und Musik von Gian Carlo Menotti – Miriam Zubieta (Lucy), Alejandro Lárraga Schleske (Ben) / Die menschliche Stimme. Mono-Oper. Libretto von Jean Cocteau. Musik von Francis Poulenc. Deutsch von Wolfgang Binal: Anne Preuß (Die Frau) / Musikalische Leitung: Yury Ilinov – Inszenierung: Kay Kuntze – Bühne & Kostüme: Elena Köhler – Dramaturgie: Sophie Jira. Weitere Vorstellungen in Vorbereitung