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Gebremste Körperbewegungen: „Tristan und Isolde“ in Lübeck. Foto: Jochen Quast
Gebremste Körperbewegungen: „Tristan und Isolde“ in Lübeck. Foto: Jochen Quast
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Brüchiges Seelenideal: „Tristan und Isolde“ als gesungene Sprachhandlung am Theater Lübeck

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„Der Pöbel ruiniert sich durch das Fleisch, das wider den Geist, und der Gelehrte durch den Geist, dem zu sehr wider den Leib gelüstet“, notierte einst der deutsche Gelehrte Georg Lichtenberg in seinen Sudelbüchern. Zwischen diese diametralen Moral-Spannungen aus der Aufklärung schob sich knapp ein Jahrhundert später das Gefühl als Erkenntnismodus der Romantik. Nicht der Geist, die Seele befindet sich nun, bürgerlicher Lebenskultur gemäß, im Widerstand zu körperlicher Lust.

Diese durchaus soziale Ambivalenz wurde für Richard Wagner, selbst gewisser Libertinage nicht abgeneigt, ein klangästhetisch revolutionärer Treibstoff in seiner auf einem Ritterepos basierenden Oper „Tristan und Isolde“, wo die Musik unstillbare Liebessehnsucht zu mystischer Steigerung des Eros aus mittelalterlichem Sujet „Was sie sich klagten und versagten, in keuscher Töne Golde“ transformiert.  

Gerade im Hinblick auf eine kritische Revision des bürgerlichen Moralkodex wird seit 2007 das ambitionierte „Wagner trifft Mann“-Projekt  international beachtet, in dessen Fortsetzung am 6. Oktober 2013 die „Tristan und Isolde“-Premiere im Theater Lübeck stattfand. Die Umdeutung ist schon in den bis zum Hals geschlossenen Kostümen evident: die Männer in schwarzen Anzügen, knöchellange Roben für die Frauen, kurzum: wie in Kleidungskäfige versteckte Körper, aus denen sich die Protagonisten nur verbal zu befreien versuchen. Dennoch hat Kostüm- und Bühnenbildnerin Tatjana Ivschina keine historistische Perspektive eingenommen, sondern durch vages Biedermeier-Interieur einen flexiblen Raum entworfen, der über die drei Aufzüge sukzessive sichtbare Zeichen schäbiger Dekadenz zeigt. (Einzig störendes Detail ist, dass nicht mit Schwertern, sondern mit Messern, klein wie Küchenbesteck, getötet wird. Wären Pistolen da nicht angemessener gewesen?)  

Analog hat Anthony Pilavachi die Oper als gesungene Sprachhandlung stringent inszeniert: mit eher gebremsten Körperbewegungen, besonders signifikant in den Momenten, nachdem Tristan und Isolde den Liebestrank geschluckt haben und eigentlich in Ekstase übereinander herfallen sollten. Doch sie unterbrechen sich abrupt, als sie sich die Kleider vom Leib reißen, bleiben „keusch“,  ihre Sehnsucht in eigener Verklemmung unerfüllt, sodass „unbewusst, höchste Lust“, die letzten Worte von Isolde nach Tristans Tod, schon als vergeblicher Hilferuf empfunden werden kann, trotz Wagners extremer Sublimierung des Liebesglücks zum Jenseits.       

Geführt wurde die „Handlung“ (so der Untertitel) mit Wagners von chromatischer Vergeblichkeit gefüllten Musik, deren wogenden sinnlichen Qualitäten mit den Lübecker Philharmonikern unter der souveränen Leitung von Roman Brogli-Sacher in weichen Timbres zur Geltung kamen. In dieser Klangumgebung konnten sich die Protagonisten optimal darstellen: Edith Haller als Isolde hatte nicht nur notwendiges Stimmvolumen, sondern artikulierte auch präzis in emotionaler Expressivität, ebenso wie Wioletta Hebrowska als Brangäne, deren verzweifelt-ehrerbietige Vertraute. In Vertretung des für die Premiere disponierten, aber kurzfristig erkrankten Jeffrey Dowd konnte Richard Decker die Tristan-Rolle in gedrosselter Leidenschaft doch überzeugend darstellen.

Etwas zurückhaltend war Martin Blasius als geprellter König Marke, während Michael Vier die Gewissenskonflikte von Tristans getreuem Freund Kurwenal vehement entäußerte.  So hat die Lübecker Interpretation von „Tristan und Isolde“ doch darauf hingewiesen, dass sich der bürgerliche Eros am eigenen brüchigen Seelenideal ruinieren kann. Aus diesem Grund hat sie nicht nur aktuellen Bezug, sondern auch berechtigten Bestand für die Zukunft.

Weitere Vorstellungen: 20./27.10., 10.11., 1./29.12.

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