„Es gibt noch Pilze…“ Dass Katerina Ismailowa bei genau diesen Worten beschließt, ihren Schwiegervater zu ermorden, macht Anja Kampe mit jeder Nuance ihres Gesangs hörbar. So wie sie Boris’ Leibspeise Rattengift unterrühren wird, so mischt sich in ihre Worte ein beängstigender Hauch von Boshaftigkeit.
Dass man dieser Katerina ihre Mutation zur „Lady Macbeth des Mzensker Landkreises“ jedoch nicht übel nehmen soll, das macht Dmitri Schostakowitsch mit seiner empathischen Musik deutlich. Zusammen mit seinem Co-Librettisten Alexander Preis hat er die naturalistische Vorlage Nikolai Leskows dahingehend adaptiert, dass die Lady als Opfer widriger, patriarchalischer Umstände Absolution verdient. Auch Regisseur Harry Kupfer lässt mit seiner Münchner Inszenierung keinen Zweifel daran, dass er bereit ist, ihr diese zu erteilen.
Auf einem trostlosen Werftgelände kurz vor der Oktoberrevolution (Hans Schavernoch mit bewährter, raumgreifender Bühnengestaltung) haust Katerina in einer schäbigen Kammer. Das ergibt angesichts des wohlhabenden Kaufmannsehepaars zwar keinen Sinn, aber Kupfer will damit einen symbolischen Ort heraufbeschwören, in dem die Heldin ihrem impotenten Gatten Sinowi und ihrem übergriffigen Schwiegervater ausgeliefert ist. Warum das Zimmer sich an Drahtseilen emporziehen lässt, bleibt in seiner dramaturgischen Funktion unklar.
Zuneigung und körperliche Befriedigung verspricht der neue Arbeiter Sergej. In der von Kupfer eher halbherzig bebilderten Vergewaltigung einer Kollegin demonstriert er seine Männlichkeit auf fragwürdige Weise. Warum Katerina ihm dennoch verfällt, vermag Kupfer nicht wirklich plausibel zu machen, was auch an Misha Didyks tenorgewaltigem, aber eindimensionalem Rollenporträt liegt. Die Beischlafszene zur berühmten Kopulationsmusik ist kaum mehr als routiniertes Bettgewälze. Weitere Anzeichen dafür, dass der Regiealtmeister hier nicht an seine früheren, kraftvoll psychologisierenden und in der Personenführung präzisen Arbeiten anzuknüpfen vermag, sind kleine Details: Ein Bediensteter trägt die Ikone beflissen herein, bevor überhaupt die Rede davon ist, dass Katerina ihre eheliche Treue darauf beschwören soll, und als sie dem sterbenden Boris den Schlüssel abgenommen hat, um ihren Liebhaber zu befreien, schleicht sich Anja Kampe mit arg chargierender Gestik und Mimik davon.
Routiniert satirisch rollen im dritten Akt die Polizisten auf hohen Bürostühlen herum, bevor sie das eine Etage höher zwischenzeitlich erstarrte Hochzeitspaar wegen des Mordes an Sinowi festnehmen. Im vierten Akt ist der Bühnenhintergrund endgültig himmelweit offen: Katerinas Freitod, bei der sie jene Gefangene mit in den Tod reißt, mit der Sergej sie betrogen hat, birgt für Kupfer in seiner Selbstbestimmtheit einen Funken Hoffnung – auch das eine wenig zwingende Lesart.
Das Herz dieser szenisch eher lauen Produktion schlägt im Orchestergraben: Kirill Petrenko führte das auf schwindelerregendem Niveau spielende Staatsorchester von fein ausgehörten kammermusikalischen Lyrizismen zu genauestens ausbalancierten Gewaltausbrüchen, deren rhythmische Präzision fast unwirklich anmutete. Merkwürdigerweise schlug diese instrumentale Brillanz aber nicht automatisch in existenziell anrührenden Ausdruck oder beklemmende Drastik um. Wie Kupfers Inszenierung, so hinterließ auch Petrenkos umjubeltes, auch in der Bühnenkoordination fabelhaftes Dirigat oft nicht mehr als einen wohligen Schauer.
Kaum weniger Applaus bekam Anja Kampe für ihr sensationelles Rollendebüt. Die ganze Palette von liedhafter Lyrik bis ins Hochdramatische vermag sie mit fließenden Übergängen ineinander zu verblenden. Dieser bis zum Ende vielleicht eine Spur zu schön und selbstverständlich sich verströmenden Stimme verzeiht man tatsächlich alles. Sergey Skorokhodov als Sinowi führte das herausragende Ensemble in den Nebenrollen an, in dem sich Alexander Tsymbalyuk in der Doppelrolle als Polizeichef und Zwangsarbeiter besonders profilierte. Einzig Anatoli Kotcherga verließ sich als Boris allzusehr auf sein scharfes Charakterisierungsvermögen, während die Stimme bisweilen doch arg matt und in der Tiefe wenig durchschlagskräftig wirkte. Überragend die Klangpracht und Differenzierung des Staatsopernchors in der Einstudierung von Sören Eckhoff.
Das Programmheft enthielt als streitbarsten Beitrag jenen Artikel des amerikanischen Musikwissenchaftler Richard Taruskin, in dem dieser bereits Ende der 1980er Jahre – ausgehend von den apokryphen, von Solomon Volkow herausgegebenen Schostakowitsch-Memoiren – begründete Zweifel an der regimekritischen Sprengkraft der Oper als Auslöser für Stalins berüchtigten Bannfluch äußerte. Ganz gleich, wie weit man Taruskin in dieser heiklen Debatte folgen mag, ein paar Spuren von Ambivalenz gegenüber dem Stück und seiner Titelheldin hätten dieser Aufführung gut getan. Ein neues Kapitel der Rezeptionsgeschichte ist in München nicht aufgeschlagen worden.