Die Premiere im alten Opernhaus Bratislava: Ausverkauft! Die besseren Kreise der slowakischen Hauptstadt zeigten sich sichtlich und hörbar angetan oder gar begeistert davon, dass im Zuge der (mit Wien gemeinsam veranstalteten) World Music Days nach langer Zeit wieder einmal eine veritable neue Oper auf den Spielplan des Nationaltheaters gelangte. Dazu noch das Werk einer jungen Komponistin, die von einem größeren deutschen Musikverlag promoviert wird und daher die Chance hätte, international zu reüssieren – Ľubica Čekovská setzte Musik zur Bearbeitung eines der berühmtesten Romane der Literaturgeschichte: „Das Bildnis des Dorian Gray“ von Oscar Wilde.
Zuletzt schaffte es mit „The Players“ von Juraj Beneš ein slowakisches Werk aufs internationale Parkett (und ebenfalls mit einem Rückgriff auf „Weltliteratur“) – diese moderne Hamlet-Oper wurde im späten 20. Jahrhundert für Paris geschrieben, wegen Direktionswechsel dort aber nicht mehr berücksichtigt und dann mit erheblicher Zeitverzögerung vor einem Dutzend Jahre an der Oper Köln uraufgeführt).
Und nun also „Dorian Gray“ – zur Opernvorlage verdichtet von Kate Pullinger, die im anglo-amerikanischen Literatur-Raum als „Erfolgsautorin“ gehandelt wird – mit Musik, die seit der Zeit des illustren Snobismus und des von Repressalien bedrohten Hedonismus Oscar Wildes noch Erfahrungen von mehr als hundert Jahren Musik- und Operngeschichte sammeln und bündeln konnte.
Oscar Wildes aus dem Fin de siècle stammender London-Roman thematisierte die Wechselbeziehung zwischen einem schon während des Entstehungsprozesses als besonders gelungen gefeierten Bild und der zunehmend von Lüsten und Lastern bestimmten Biographie des schönen jungen Mannes, der ihm Modell steht. Wilde komponierte genüsslich die homoerotischen Begierden der Müßiggänger der Upper class in seinen Text ein und streifte, soweit es die Zensur zuließ, die auch in Großbritannien am Ende des 19. Jahrhunderts noch unter Strafe stehenden homosexuellen Obsessionen. Aus einem (fast platonischen) Lehrgespräch über die Unausweichlichkeit des Alterns zwischen dem diabolischen Lord Henry und dem naiven Schönling Dorian Gray entwickelt sich bei diesem die Sehnsucht nach ewiger Jugend; er verkauft – einem uralten literarischen Modell folgend – seine Seele: Das Bild altert, während er in seiner eskalierenden Genuss-Sucht sich schuldig macht und dabei auf dramatische Weise jung bleibt. Die Librettistin ließ vom Wildeschen Diskurs über schöne Kunst und richtiges Leben wenig übrig und konzentrierte sich nach der Manier von Boulevard-Theater auf die plakativ zur Wirkung bringbaren Stationen der abschüssigen Biographie eines Dandys. Also: Wie er sich von Lord Henry nur allzu willig verführen lässt und als Debút sich eine blutjunge Schauspielerin zur Brust nimmt, diese rasch ruiniert und zum Suizid treibt (später auch den Kumpan Alan); wie der „Rake’s Progress“ dann weitergeht, durch Clubs, Spelunken und Opiumhöhlen führt und auf dem Weg der Ausschweifungen unter anderem den Mord am Maler des Muster-Bildes zeitigt. Am Ende wird Gray von seinen Schuldgefühlen eingeholt und stürzt (sich) ins eigene Messer.
Das alles erzählt die Inszenierung von Nicola Raab schlicht und linear vor einer Kulisse, die mit wenigen Pinselstrichen und Requisiten spätes 19. Jahrhundert und ein wenig von dessen Dekadenz andeutet. Die Übertragung des Alters von der Person auf deren Abbild allerdings sparte sie aus: Ist vom Konterfei die Rede, stellt sich allemal Eric Fennell, der strapazierfähige Tenor der Titelpartie, in den Rahmen. Das vermeidet zwar geschickt, Porträtkunst ganz auf der Höhe der Zeit und dazu in ständiger Veränderung zeigen zu müssen (dergleichen gerät gerne peinlich), bringt das Drama damit aber um den höheren Pfiff. Gewiss, die Komponistin Ľubica Čekovská war bemüht, Musik an die Hohlstelle treten zu lassen: „Stimmen des Bildes“, gesungen von einem Knabenchor, voraufgezeichnet und elektronisch nachbearbeitet, ziehen sich wie ein Erinnerungs- oder Leitmotiv durch die drei Akte, erscheinen in verschiedenen Varianten zehnmal.
Da es sich bei der Oper insgesamt um eine von Anfang an geschichtsbezogene Kunstform handelt, steht nicht zur Diskussion, dass die neue Arbeit Čekovskás, die ohne Umschweife der Kategorie der Literaturoper zuzurechnen ist, von Anfang bis Ende Verweise auf vorangegangene Werke kolportiert, sondern wie sie dies tut. Der narrative und bei der Illustrierung des in Langeweile dahindümpelnden Aristokratenlebens viel zu massiv ausgestattete Orchestersatz, den Christopher Ward auch noch hoch aussteuert, ist frei atonal gehalten, dabei nicht allzu reich mit schärferen Dissonanzen oder gar rhythmischen Schreckmomenten bestückt, sondern eher fließend und aufgeladen mit mancherlei Figuren der nachklassischen symphonischen und Opern-Tradition. In den weithin recht gut sangbaren Linien der Solostimmen, aber auch im Instrumentalbett finden ich mancherlei Muster, wie sie Benjamin Britten und Dmitri Schostakowitsch ausgeprägt haben, insbesondere aber auch Intonationen, die unmittelbar an Leoš Janáček anknüpfen.
Der elegante Londoner Lebemann Dorian Gray wurde aus der Ära des Viktorianismus musikalisch ins ländlich-deftige Mittelosteuropa transferiert mit einem vielleicht mit zu viel frischem Engagement und zu viel mechanischer Selbstgerechtigkeit ins Werk gesetzten Tonspur. Eine gewisse Distanzierung durch musikdramatische Mittel der Moderne hätten der Kunstförmigkeit des Projekts womöglich gut getan.