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Bettina Mönch (Julie Nichols), Ensemble des Staatstheaters am Gärtnerplatz. Foto: © Jean-Marc Turmes
Bettina Mönch (Julie Nichols), Ensemble des Staatstheaters am Gärtnerplatz. Foto: © Jean-Marc Turmes
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Die Frau als der bessere Mann – Europäische Erstaufführung des Musicals „Tootsie“ am Münchner Gärtnerplatztheater

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Oder doch umgekehrt? Unser Kritiker ist sich nicht ganz sicher – angesichts des überbordenden Jubels für Solisten, Dirigent und Regisseur, Chor und Orchester, die Musical-Fassung – und einfach auch das Werk an sich. Denn das kann sich neben allen Geschlechtertausch-Komödien von „Charleys Tante“ bis zu „Mrs. Doubtfire“ mehr als behaupten – und legt noch amüsant insistierend den ein und anderen Missstand im Kulturbetrieb bloß, gerade auch nach dem Corona-Shutdown. Rundum „ein toller Abend“!

Schon mehrfach hat sich das Staatstheater am Gärtnerplatz mit einer Bühnenaufführung neben einem Film-Welterfolg behauptet, so auch jetzt wieder. Denn natürlich taucht bei „Tootsie“ sofort der faszinierende Verwandlungskünstler Dustin Hoffman auf: im Filmklassiker von 1982. Um sich dagegen zu behaupten, müssen schon erste Könner ran – und die kamen in Münchens anderem Musiktheater zusammen. Das Werk bietet den Vorteil, nicht wie der Film um eine TV-Serie zu kreisen, sondern um eine Theateraufführung – ermöglicht also eine ironische und auch realistisch bittere Selbstbespiegelung des Lebens und Leidens auf den Brettern, die die Welt bedeuten können und sollen.

Gleich nach dem Opening begann Bühnenzauber: Billigwohnung („Enjoy Poverty“ als Plakat an der Wand), banale Probebühne, Hinterhofgewirr, Künstlerkleingarderobe, Agentur-Büro, Mini-Park-Idylle – alles herum-, herauffahrend oder versinkend auf der fabelhaft genutzten Drehbühne, gipfelnd in einem Szenen-Teil gleichsam hinter der Bühne samt Verbeugung nach hinten - doch dann fahren für die geplante „Romeo & Julia“-Adaption Hänger herab, drehen die imaginierte Bühne um 180 Grad und verwandeln alles in ein Broadway-Kitsch-Verona mit Kolonaden, Fellini-Springbrunnen mit Haifisch obenauf und Lichterlauffäden als kleinen Fontänen – Ovationen für Karl Fehringers und Judith Leikaufs Bühne. In diesen Szenerien führten Karl Mayerhofers Kostüme Kleinkünstler-Jeans-T-Shirt-Schlichtheit, Tanz-Proben-Vielfalt, imitierte Bühnen-Renaissance-Kostüme – und dann: Fetz! Verlegung der ganzen Aufführung in die 1950er mit Fast-Petticoat und Tanz-Smoking. All dies wirbelnd in Adam Coopers Choreografie, die den Show-Tanz dieser Jahre imitierte und von der zwölfköpfigen Tanztruppe „serviert“ wurde. Denn aus dem Graben „fetzte“ es immer wieder: Andreas Partilla „servierte“ David Yazbeks Musik mit Verve – und ging perfekt auf das meist rasante Tempo der Inszenierung ein. Doch die faszinierte auch durch das Setzen von Mini-Pausen, wenn das Chaos drohte oder eben plötzlich die Gefühle ernst wurden. Die gute deutsche Übersetzung von Roman Hinze enthält viel Charakteristisches zu Schauspielerberuf, Gagen-Elend, Glück des Spielens – und der Situationskomik echter wie vorgespielter Selbstverwirklichung. So viel Wortwitz – „Mit der Verflossenen auszugehen ist wie den verstorbenen Hund Gassi zu führen“, prompt Gelächter und Szenenapplaus war selten. Mehrfach fühlte man sich in eine Komödie von Feydeau versetzt.

All das zusammen: Regisseur Gil Mehmert ist ein Saison-Höhepunkt gelungen. Seine Solisten-Riege verdient mehr als die eine Bühnen-Rose: Daniel Gutmann war der „voll schlau“-tumbe Romeo-Schönling mit „Tootsie“-Tattoo auf der Athleten-Brust; Dagmar Hellberg verkörperte die silberhaarige, Millionen-schwere Produzentin mit Theaterinstinkt per se; Erwin Windegger verwandelte sich in den bemüht wuselnden Agenten Stan; Gunnar Frietsch zeigte das Elend des zunächst uninspirierten Autors Jeff, der am Ende aber den „Tootsie“-Stoff für die Bühne schreibt; Julia Sturzlbaum führte die neurotisch-hysterischen Ausbrüche der Schauspielkollegin Sandy bis in bejubelte Slapstick-Höhen-Abstürze vor; Alexander Franzen tanzte singend eine Brüll-Knall-Charge an eitlem Regisseur voller „MeToo“-Attitüden; dem entzog sich die bildschöne Julie von Bettina Mönch mit Grazie, Anmut und gekonnten Show-Attitüden einer Bühnen-Julia – klar, dass der bislang von Bühne wie Leben eher enttäuschte Michael Dorsey ihr schon beim ersten Blick – ein fein gezeichneter Innehalt-Moment - verfällt. Seine Verwandlung in Tootsie-Dorothy Michaels, in die resolute Amme der Bühnen-Julia gelang Armin Kahl so perfekt, weil der „Kerl“ immer wieder ein wenig durchschien: allein wie er immer wieder mit gespreizten Beinen da lümmelte, um dann sofort in züchtig geschlossenes Dasitzen als „Frau“ zu wechseln – sein Rollen- und Mentalitätswechsel, prompt auch die Umgestaltung der Bühnenhandlung mit Titel „Julias wahre Amme“ wurde glaubhaft – bis hin zum Pausen-Gag, dem heißen Kuss zwischen beiden: „Oh shit!“.

Doch über all dieser präzisen Personenzeichnung, ihren rasanten Wechseln durch die Bühnenräume kam der Gesang nicht zu kurz. „Ich knie mich rein“, „Wer bist du?“ oder „Ich bin für dich da“ bis hin zu Julias „Wohnen im Schneckenhaus“ besitzen zwar nicht Ohrwurm-Qualität, aber große Emotion – und auch die flutete über die Rampe. Nach dem reizvoll stillen Finale mit der schüchternen erneuten Hand-Annäherung von Julia und Michael auf der Parkbank brandete die Begeisterung aus dem Zuschauerraum in Standing-Ovations zurück. Das Gärtnerplatztheater hat einen neuen Hit – entsprechend der Erstaufführung: Europa kann und sollte kommen!

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