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 Claudio Otelli (unten), Ensemble und Bremer Philharmoniker unter der Leitung von Killian Farrell. Foto: Jörg Landsberg
Claudio Otelli (unten), Ensemble und Bremer Philharmoniker unter der Leitung von Killian Farrell. Foto: Jörg Landsberg
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Die furchtbare innere Welt – Wolfgang Rihms „Jakob Lenz“ in Bremen

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Die Kammeroper des jungen Wolfgang Rihm reißt in der Bremer Inszenierung von Marco Štorman mit, sie mache die Zuschauer*innen zu betroffenen Zeugen. Claudio Otelli in der Rolle des Lenz bietet eine überragende Leistung, findet unsere Kritikerin Ute Schalz-Laurenze.

Schon bevor die Vorstellung beginnt, ist Jakob Lenz unter uns: während die ZuschauerInnen hereinkommen, schreitet diese beobachtend der Sänger Claudio Otelli das Rund ab, auf dem er steht und das umrahmt ist von aufsteigenden Sitzkreisen. Diese haben ein historisches Modell (Bühne von Jil Bertermann): das „anatomische Theater“ 1594 in Padua, in dem 500 Studenten einer Leichensezierung zuschauen konnten. Und nun schauen wir Jakob Lenz zu, dem „Sturm und Drang“-Dichter, der sich 1778 auf Anraten seines Freundes Christoph Kaufmann 20 Tage lang bei dem Pfarrer und Sozialreformer Johann Friedrich Oberlin in Waldersbach im Elsass aufhielt: er wollte und sollte sich von den Anzeichen einer beginnenden Schizophrenie erholen.

Wir sehen Lenz in der Kammeroper Nr.2 des 26-jährigen Wolfgang Rihm, die der Komponist nach der Novelle „Lenz“ von Georg Büchner (1835) schrieb, der wiederum die veröffentlichten Aufzeichnungen von Oberlin zur Grundlage seiner sicher auch biographischen Erzählung machte.

Die Bremer Aufführung ist nichts weniger als mitreißend. Dem Regisseur Marco Štorman gelingt es, uns zu betroffenen Zeugen zu machen von Lenz‘ Halluzinationen, Traumwelten, Ängsten, Schuldgefühlen, Aggressionen, seiner Sehnsucht, dazuzugehören und genau das nicht mehr zu können. Es gelingt ihm, uns Lenz zu zeigen als ein Teil von uns, die wir die Vertreter einer stets disziplinierenden Ordnung sind.

Im handlungsarmen Stück geht es um Lenz‘ pietistische Erziehung und eine Umwelt, die ihn nicht versteht und verletzt. Auch Oberlin, der ja helfen will, stülpt ihm nur die eigene Phrasen-Ideologie über – Arbeiten und Beten würde helfen – und Kaufmann, der ja auch helfen will, schmückt sich mit einem „Künstler“. So sind Oberlin und Kaufmann keine realen Gestalten, sondern nur die Fratzen, die Lenz sieht: Oberlin in guruhaftem Goldumhang mit langen roten Locken und Kaufmann in barockem Karnevalskostüm (Kostüme: Sara Kittelmann). Christoph Heinrich als Oberlin und Christian-Andreas Engelhard als Kaufmann kreieren erschütternde Konturen dieser für Lenz so bedrohlichen Fratzen. Auch der Kinder, die ein Abbild Lenz‘ sind, und die Stimmen, die seine innere Welt repräsentieren, sind wirkungsvoll eingesetzt.

Doch der Regisseur allein könnte ja eine solche Sicht des „Wahnsinns“ nicht umsetzen ohne seinen Hauptdarsteller Claudio Otelli. Die furchtbare innere Welt, in die uns Otelli schauen lässt, dieses „Schlaraffenland verwilderter Ideen“ (Kaufmann), seine Angst, seine Schuld, sein Betteln, seinen Widerstand, seine Erinnerung an die geliebte Friederike Brion – alles wird in unglaublich schnell wechselnden Emotionen verständlich bei Otelli, der seinen Zustand einmal durch den Bühnenbau, aber auch durch Blickkontaktaufnahme mit dem Publikum existentiell vernetzt. Auch sängerisch eine überragende Leistung dieser unerhört anspruchsvollen Partie zwischen Sprechen, Sprechgesang, Registerwechseln und strömendem kraftvollen Singen. „Konsequent“ ist mehrfach wiederholt sein letztes Wort, das uns verfolgt: Konsequent hat er diese Gesellschaft verlassen.

Die Musik von Rihm ist einerseits eine farbenreiche fantastische Komposition, andererseits bleibt sie in vielen Momenten doch in sehr guter, aber doch auch plakativer und tautologischer Schauspielmusik stecken, ist eher expressionistische Ausdrucksmusik als wirklich zeitgenössisches Theater, denkt man einmal an die zeitgleich entstandenen Werke wie „Al gran sole“ von Luigi Nono (1975) oder auch „Le Grand Macabre“ von György Ligeti (1978). Killian Farrell führte die elf Musikerinnen – warum sind die in dem ansonsten fabelhaften Programmheft nicht namentlich genannt? – engagiert und temperamentvoll durch die Musik, die der Komponist als „immer auf dem Sprung in die Hauptperson“ verstand.

  • Weitere Aufführungen am 6., 14. und 26.2., am 1., 20. und 31.3., am 5. und 25. 4. un d am 3. und 16.5.

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