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Donaurauschen von Daniel Ott und Enrico Stolzenburg. Foto: Susanne van Loon
Donaurauschen von Daniel Ott und Enrico Stolzenburg. Foto: Susanne van Loon
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Greifbar naher Mythos von der Erschaffung der Neuen Musik: Die Donaueschinger Musiktage in ihrem 100. Jahr

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Warum bei einer Rekordzahl von 24 Konzerten mit 27 Uraufführungen gefühlt so viel Adagios wie nie bei den Donaueschinger Musiktagen 2021 erklangen, kann nur vermutet werden. Es liegt durchaus nahe, den Grund dafür bei den psychokompositorischen Auswirkungen der Pandemie zu suchen.

Noch mehr Uraufführungen als je zuvor an nicht nur drei, sondern vier Tagen Festival belegen, dass der künstlerische Leiter Björn Gottstein in der letzten von ihm verantworteten Festivalausgabe keine Retrospektive des weltweit ältesten Uraufführungsfestivals im 100. Jahr seines Bestehens im Sinn hatte, sondern dem Markenkern der Donaueschinger Musiktage treu blieb, der aktuellen und neuesten Musik das nötige Podium zu bieten.

Das Neue präsentierte sich undogmatisch, vielfältig, divers, couloured und gendergerecht - und im Adagio, eine Tempobezeichnung, die nie ins addolorato oder gar desolato führte. Manche Konzerte, etwa das des Trio Accanto und der jungen Geigerin Diamanda La Berge Dramm in der Tradition singender Fidlerinnen, hatten Unterhaltungswert. Unterhaltsam ohne künstlerische Abstriche waren ebenso  der Film „20:21 Rhythms of History“ von Johannes Kreidler mit Salome Kammer und Instrumentalisten oder auch das Orchesterstück „World as Lover, World as Self“ für Klavier und Orchester von Liza Lim mit der unglaublichen Tamara Stefanovich, die – wie gewohnt - als Virtuosin und – ungewohnt – auch als Singer/Songwriterin am Klavier agierte.

Höhepunkt der guten Unterhaltungskunst war das Projekt von Daniel Ott und Enrico Stolzenburg „DONAU / RAUSCHEN Transit & Echo“. Es zog die Bevölkerung an, wie sonst nur ein verkaufsoffener Sonntag. Auch die Politik bekannte sich zur Gegenwartsmusik: Donaueschingens OB Erik Pauly war begeistert vom Engagement der örtlichen und internationalen Blaskapellen, die auf Plätzen und Straßen, aus den Fenstern und von den Dächern der Stadt in der Art der Stadtpfeifer ganz Donaueschingen in eine mobile Klangskulptur verwandelten, der die Menschen folgten wie dem Rattenfänger von Hameln. Dem bewährten Neue-Musik-Konzertgänger es konnte nicht verborgen bleiben, dass Rattenfänger Daniel Ott beim Projekt „Donaurauschen“ auf ein Konzept zurückgegriffen hatte, das er im Rahmen von Sounding D des Netzwerks Neue Musik bereits im Sommer 2010 in Eisenach durchgeführt hatte.

Ambitionierte Werke wie  „Us Dead Talk Love“ nach einem Text von Ed Atkins von Rebecca Saunders, „Hirn“ von Enno Poppe oder Francesco Filideis Passion „The Red Death“ für Solisten, Chor und Orchester, das der Frage nachging, was eine Seuche mit der Gesellschaft macht, blickten auf die jüngere Geschichte der Neuen Musik zurück. Filideis Oratorium mit nahezu 130 Mitwirkenden inklusive dem SWR Symphonieorchester, dem SWR Vokalensemble, dem Chorwerk Ruhr oder auch dem IRCAM erhielt den Orchesterpreis 2021 des SWR Symphonieorchesters.

Erwähnenswert ist sicher auch ein ganz besonderes Programm im Programm, „Donaueschingen Global“, bei dem die kuratorische Entscheidung nicht allein bei Björn Gottstein lag. „Donaueschingen Global“ war ein Forschungsvorhaben, bei dem vier Researcher ein Jahr lang Zeit hatten, um Länder zu bereisen, und sich über deren aktuelle Musik zu informieren. Die Musiktage luden im Anschluss 23 internationale Künstler ein, unter anderem das Ensemble CG aus Kolumbien, das Ensemble Maleza aus Bolivien, Omnibus aus Usbekistan oder das Duo Two or the Dragon aus Beirut. Ebenso noch wenig bekannte Komponisten aus Bahrain, aus Thailand oder aus Peru. Auf der abschließenden Pressekonferenz zog Gottstein ein erstes Resümee: „Man kann es nicht richtig machen. Aber man musste es machen.“ Viele Künstler hätten abgelehnt, unter dem Logo „Donaueschingen Global“ zu firmieren, man wollte nicht Teil von Gottsteins exotischem Neue-Musik-Zoo oder Kuriositätenkabinett werden. Auch der Vorwurf der Cultural Appropriation – der kulturellen Aneignung – stand im Raum. Doch es gab  auch positive Äußerungen wie die der Flötenbauerin, Interpretin und Komponistin Macri Cáceres, die betonte, dass es für eine Musikerin aus Peru, die klassisch ausgebildet sei, aber auch ihre regionale Kultur im Gepäck habe, eine tolle Chance sei, unterschiedliche  Kulturen in Verbindung zu setzen, zu mixen und Neues daraus entstehen zu lassen.

Der Kenner kann nur zufrieden sein, wenn seine Kennerschaft gewürdigt wird. Höhepunkt der 100-Jahr-Festival-Feier waren natürlich die Aufführung des 1. Satzes „Lebhaft und sehr energisch“ aus Paul Hindemiths Streichquartett Nr. 3, op. 16, das seine Premiere 1921 in Donaueschingen erlebt hatte. Ebenso die inspirierte und frische Aufführung von Pierre Boulez „Polyphonie X“ durch das Lucerne Festival Contemporary  Orchestra. 1951, vor exakt 70 Jahren, sorgte die Uraufführung des seriell komponierten Stücks für einen Skandal, nach dem Boulez sein Werk zurückzog. Dank der Initiative von Wolfgang Rihm, Mark Sattler und dem Lucerne Festival gab die Boulez-Familie die Einwilligung zu zwei historischen Wiederaufführungen, von denen eine in Luzern und eine jetzt in Donaueschingen stattfand. Der Mythos von der Erschaffung der neuen Musik mit großem N war greifbar nah im Mozartsaal der Donauhallen und kann weitererzählt werden.

 

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