Solche Opernabende mit subtilem Tiefgang und intelligenter Buntheit sind die beste Prävention gegen Publikumskrisen. Die sommerliche Parkdeck-Produktion der Deutschen Oper Berlin lief im Rahmen des Kultur Sommer Festival Berlin und passte da bestens. Die Regisseurin Pinar Karabulut, der Bariton Dean Muphy als Eddy und das ganze Team lieferten in Mark-Anthony Turnages 90-Minuten-Oper „Greek“, die den antiken Mythos des Vatermörders und Mutterschänders Ödipus in die britische Unterschicht beamt, ein sinnlich-sarkastisches Theater mit Spaß, Biss und Artistik. Bravi!
Die Terminplanung war fast so sprunghaft wie die Katastrophenkette in der aus althellenischer Heroenzeit in die britische Unterschicht des späten 20. Jahrhunderts versetzte Tragödie „Ödipus“ des Sophokles. Auf der Website der Deutschen Oper Berlin standen noch Mitte August die ursprünglichen Aufführungsdaten mit Stand vor den Theaterferien. ‚Ratzfatz‘ war die die Openair-Produktion für das Parkdeck in das Kultur Sommer Festival von Draussen Stadt gerutscht, wohin sie mindestens genauso gut passt. Jetzt ist das knallbunte Vergnügen schon wieder vorbei – leider! Denn nach Highlights wie Xenakis „Oresteia“ und Wagners nach dem ersten Lockdown im Studioformat eingeschobenes „Rheingold“ ist die Oper von Mark-Anthony Turnage (geb. 1960) ein glorioses Parkdeck-Event mit Emotionsbädern von Frechheit bis Verzweiflung. Großartig sie alle: Das Ensemble, die Musiker, die Ausstattung, der Stab, die Technik. Es ist ein satter Opernsegen, wie die Deutsche Oper Berlin auf der kargen Großfläche mit der für Sänger sensationellen Akustik und der Laderampe zur Hinterbühne gerne an „Aida“, „Nabucco“, „Freischütz“, „Lustige Witwe“ vorbeiprogrammiert und dafür wirklich relevante Opernbringer serviert. Zum Beispiel „Greek“.
Seit der Uraufführung bei der Münchner Biennale 1988 wurde das Musiktheater-Debüt von Mark-Anthony Turnage zum Fast-Repertoirestück. Seine Musik ist einfach stark, egal ob er Pop-Intonationen einbaut, den Sängern melodisch-deklamatorische Zuckerstücke mit Tabasco reicht oder am Ende, wenn der Vatermord und das Inzest-Desaster ruchbar werden, Soloinstrumente mit Eddys Bariton in schmerzlicher Intimität vereint. So schön können das sonst nur andere Briten wie Delius oder Britten. Aber Eddy-Ödipus sticht sich im vom Komponisten mit dem Uraufführungsregisseur Jonathan Moore nach der Verstragödie von Steven Berkoff dann doch nicht die Augen aus und plädoyiert stattdessen für ein Recht auf Liebeskonstellationen aller Arten, Spielarten und Möglichkeiten, bis er vom die Zuschauerreihen durchbrechenden Laufsteg nach draußen stürmt. Das gewinnt in der außergewöhnlichen Location mit fast allen Vorzügen eines geschlossenen Theaterraums gewaltige Intensität.
Regie und musikalische Leitung hätten sich ohne weiteres auf das tolle Bühnenbild mit dem nostalgisch gemalten Bühnenportal von Michela Flück und den Neonfarbrausch der kessen Kostüme von Teresa Vergho verlassen können. Das taten sie aber nicht. So blitzen neben den Stimmen auch die Augen der Sänger, zeigen die Figuren alle Stufen zwischen feiner Empathie und fetziger Ironie bis in die Finger- und Tonspitzen. Der visuelle Zitat- und Andeutungskosmos reicht von den antikisch nachempfundenen Frisuren zu den Casuals der Kostüme. Text und Musik beben und treiben. In Großbritannien haben, wenn man Turnage und Berkoff glauben will, auch der Kneipier von nebenan und der Cop ein intuitives Gespür für Metaphern und Mehrdeutiges. Eine ‚desperate housewife‘ gewährt ihre Gunst demzufolge fast immer wie ein Starlet.
Glücklich das Opernhaus, welches für „Greek“ ein solches Opernensemble aufbietet – Dean Murphy als Eddy-Ödipus an erster Stelle! In der Belcanto-Slang-Floskel „Sorgt euch nicht, wenn's später wird“, bevor Eddy sich den sexuell aufgefeaturten Rätseln der Sphinx stellt, akkumuliert sich eine Menge von dem, was Oper heute auszudrücken vermag. Auch Rebecca Jo Loeb, Heidi Stober und Seth Carico – sie alle in mehreren Partien – gelingt der qualitative Supersprung zum Mond über Soho. Es kann so piefig sein, wie sich Opernsänger verbiegen, wenn sie auf Absturz und Klamauk machen. Hier dagegen reüssieren sie alle brillant. Die sprachlich-musikalischen Hochplateaus und Tiefebenen von Poesie und Zote verblendet dieses Ensemble perfekt, ironisch, burlesk und mit bis in die letzte Reihe springender Laszivität. Das kleine Orchester sitzt wieder über den Spielflächen und stürzt sich lustvoll auf Turnages aus der Partitur springende und mit viel instrumentalem Rowdytum gewürzte Humanität.
Ein Glücksfall: Sowohl die Dirigentin Yi-Chen Lin als auch die Regisseurin Pinar Karabulut kommen aus Familien, in denen Prophezeiungen und der böse Blick im Leben als allzeit präsente und reale Tatsache betrachtet werden. „Das Schicksal lässt uns Rollen spielen“ hat hier für die Tragödie Sophokles’ also echte Größe und eine weitaus stimmigere Dimension als unbedenkliche Selbstoptimierungsfloskeln wie „Gestalte die Rolle so, dass sie dir passt“ oder andere säkulare Allmachts- oder Ermächtigungsphantasien. Unter dem „Greek“-Treiben legt die Regie eine unablässige, feine Schicht des Nachdenkens über den Sinn des Lebens und den Riss zwischen Individuen, Welt, Wille und Vorstellung. So wird Eddy auf dem Parkdeck der Deutschen Oper Berlin zum hochartifiziellen Jedermann des Thatcherismus.