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Chefdirigent Vladimir Jurowski dirigiert Haydn und Uraufführungen von Komponist*innen aus der Ukraine, Iran, Russland und Berarus. Foto: Peter Meisel
Chefdirigent Vladimir Jurowski dirigiert Haydn und Uraufführungen von Komponist*innen aus der Ukraine, Iran, Russland und Berarus. Foto: Peter Meisel
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Ein neues grenzenloses Gesamtkunstwerk

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Die Passionsgeschichte zu Ostern handelt vom Kreuzestod Jesu Christi, stellvertretend für alles Leiden dieser Welt. Das ist glücklicherweise lange her und, als in religiöse Nischen verbannte Geschichte, angenehm ferngerückt. Barocke bis romantische Vertonungen biblischer Texte erfreuen sich entsprechender Beliebtheit. Vladimir Jurowski kombiniert Haydns „Sieben Worte des Erlösers am Kreuz“ mit sechs Auftragskompositionen und betont die bestürzende Aktualität von Flucht, Widerstand und Folter im Nahen Osten und Europa.

Das Projekt des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin katapultiert die Bibeltexte nun direkt in unsere Gegenwart kriegerischer Auseinandersetzungen: Chefdirigent Vladimir Jurowski konfrontiert Joseph Haydns Original-Orchesterfassung von „Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze“ mit sechs Auftragswerken unter anderem von ukrainischen, russischen und belarussischen Komponist*innen. Diese Kombination ist per se mutig, zielt sie doch auf eine Verständigung und Zusammenarbeit ab, die momentan nicht angesagt erscheint ‒ von manchen vielleicht auch als provozierend empfunden wird. Dass auch eine Iranerin dabei ist, lenkt die Aufmerksamkeit darauf, dass Katastrophen nicht erst dann solche sind, wenn sie sich vor unserer Haustür ereignen.

Ein funktionierendes Ganzes aus unterschiedlichsten Teilen

Die Uraufführungen sind zwischen die neun Sätze von Haydns Werk gestreut – die „sieben Worte“ werden durch eine „Introduzione“ und ein „Terremoto“, das Erdbeben in Golgatha beschreibend, ergänzt. Berlins Noch-Kultursenator Klaus Lederer – auf der Suche nach einem neuen Betätigungsfeld? – rezitiert dazwischen wohltuend unpathetisch Gedichte von Anna Seghers und des ukrainischen Schriftstellers Serhij Zhadan. Beide thematisieren Flucht, Widerstand und Folter – im Bezug auf zwei 80 Jahre auseinanderliegende Kriege zeigen sie bestürzende Ähnlichkeit.

Bei aller Qualität der einzelnen Werke liegt der Reiz des Projekts in der Gesamtheit, in der Verschränkung von Alt und Neu, dem kreative Aufgreifen der „klassischen“ Vorlage durch zeitgenössische Vielfalt. So entsteht ein neues Gesamtkunstwerk. Jurowski holt Haydn vom Sockel, indem er dem Ausdruck den Vortritt vor Klangschönheit gibt, mit heftigen Akzenten und scharfgeschnittenen Rhythmen Dramatik erzeugt, die Streicher aufgeraut statt samtig spielen lässt und auch lyrische Partien niemals verzärtelt. Motive und Strukturen dieser streng gefügten und durch oft repetierenden Puls eine starke Eindringlichkeit aufweisenden Musik werden hie und da von den Auftragswerken aufgegriffen. Dabei verfolgen die osteuropäischen Komponist*innen durchweg eine Ästhetik, die sich von rigiden Avantgarde-Prinzipien abgewandt hat.

Uraufführungen zwischen Katastrophe und Hoffnung

Das kulminiert bei der Ukrainerin Victoria Poleva (geb. 1962). Sie hat sich in den 1990er Jahren zu einer „neuen Einfachheit“ und einer Art „sakralem Minimalismus“ auf tonaler Basis bekannt. Ihr Adagio „Music is coming“ bündelt mit charakteristischem Doppelschlag-Motiv die Essenz aller langsamen Sätze Gustav Mahlers und greift gleichzeitig Haydns Sonata III („Weib, siehe, das ist dein Sohn“) auf, ein mildes Dur-Grave mit eben jener Doppelschlagfigur. Für Kitsch ist das zu gut gemacht, mehr noch schockiert es durch seine Ungebrochenheit. Ein tröstendes Gegenbild zu den ansonsten um Ausdruck von Konflikt und Katastrophe bemühten Werken, dem man sich gerne hingibt.

Oleksandr Shchetynsky steuert nach Haydns schmerzhaften Introduktions-Akkordschlägen ein sanftes „Agnus Dei“ bei. Mit seinen verschiedenen sich reibenden Klangschichten, von hellem Diskant der Flöten und Trompeten, irisierenden Streichern und ins Dunkle abgleitenden Posaunen, ist es das klanglich vielleicht am sensibelsten ausgehörte Stück des Abends. Die Friedensbitte des „Agnus Dei“ zeigt sich in flüchtigen tonalen Punkten, die sich auch mal dramatisch getönt aus dem clusterartigen Geflecht herausschälen. In der Generation nach Valentin Silvestrov ist der 1960 in Charkiw geborene Komponist, eher postseriellen Strömungen zuneigend, eine wichtige Stimme der ukrainischen Musik.

Demgegenüber verbindet Victor Copytsko, 1956 im belarussischen Minsk geboren, verschiedene Kompositionsprinzipien auf tonaler Basis. Sein Werk „Tropus“ ist voller Brüche, in denen eine Aktion die vorhergehende auslöscht und unter denen das belarussische, also heimatliche Cymbalom, gespielt von Nadzeya Karakulka, wie aus einer in der Ferne versunkenen, fremden Welt klingt.

Anton Safronov, 1972 in Moskau geboren, lebt schon lange in Berlin, studierte nach erster Ausbildung durch Edison Denissow bei Walter Zimmermann und Wolfgang Rihm. Die Terzmotive und scharfen Repetitionen des vorangegangenen Haydn-Stückes („Mich dürstet“) irren dissonant durch sein „Sitio – Lacrimae“, verdichten sich zu schneidenden Bläserklängen, gegen die Streicherpizzikato hilflos anrennen. Ein farbiges, klar strukturiertes, in Ausbrüchen von Trauer und Wut packendes, vielleicht auch pathetisches Stück. Viel spröder, auch filigraner spinnt Boris Filanovsky in „Consummatum est“ die einzelnen, gelegentlich Vergangenes streifenden Klangfäden. Wie Safronov lebt auch der im damaligen Leningrad Geborene Mittfünfziger seit langem im Westen und sammelte internationale Erfahrungen, die sich in seinem Werk differenziert und von Skepsis durchdrungen niederschlagen.

Wie passt sich der Stil von Iranerin Sara Abazari (geb. 1976) in dieses europäische Spektrum ein? „De Profundus“ ist vor Haydns „Terremoto“ gesetzt, nimmt das Erdbeben quasi vorweg, eine Musik von ungeheurer Wucht, drohend und düster, das die orchestralen Möglichkeiten der für alle Werke vorgeschriebenen Haydn-Besetzung erstaunlich ausschöpft und steigert. Man glaubt ein Riesenorchester vor sich zu haben. Wütende Trompetenschreie über Paukengewittern beschließen das Stück, nachdem sich zuerst aufgespaltenen Einzelblöcke immer dichter zusammengeschoben haben. Die Komponistin, die in Teheran und Köln studierte sowie in Wien über das Thema „Musik und Macht im Iran“ promovierte, hat es dem Ausruf der iranischen Demonstranten gewidmet: „Zan, Zendegi, Āzādi – Frau Leben Freiheit“.

 

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