Die radikale Nachkriegsavantgarde begründete eine goldene, aber auch dogmatische Ära der Neuen Musik: Auf Basis der von Adorno befeuerten Innovationsdynamik, begründete der paneuropäische Klub der seriellen Musik um Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen und Luigi Nono einen ‚Absolutismus der Moderne‘, der Abweichlern des Fortschrittsimperativs gnadenlos die Mitgliedschaft entzog: das galt für den harmonieverliebten Hans Werner Henze genauso wie für den freigeistigen Wilhelm Killmayer, der am 20. August diesen Jahres in München verstarb – nur einen Tag vor seinem 90. Geburtstag. Schon die Musica Viva des Bayerischen Rundfunks funktionierte im September ein lang geplantes Ehrenkonzert kurzerhand in eine „in memoriam“-Veranstaltung um; nun haben Schüler und Weggefährten des Komponisten vom aDevantgarde-Verein ein sehr persönliches Musikfest zu Ehren Wilhelm Killmayers veranstaltet.
„Im Freien“ nannten Moritz Eggert, Markus Schmitt und Johannes X. Schachtner ihre Festival-Hommage und betonten auch in ihren Danksagungen den widerständigen und humorvollen Freigeist „Killis“, der nicht nur ein von den Dogmen seiner innovationsbesessenen Weggefährten unabhängiger Klassekomponist, sondern auch ein großer Förderer der jungen Generation gewesen sei. In den Programmen ließen sie folgerichtig nicht nur den viel zu selten gespielten Wilhelm Killmayer selbst ausgiebig zu Klang kommen, sondern auch ihm ästhetisch oder biographisch nahestehende Komponisten – und bastelten so „ein Programm, wie es ihm selbst gefallen würde“.
Den Auftakt machte eine Veranstaltung im Orff-Zentrum München, die sich vielsagend „Killmayer – Lehrer und Schüler“ nannte: sein Lehrer Carl Orff war mit In trutina (1956) aus der Carmina Burana in der Fassung für Sopran, Klavier und Schlagzeug von Wilhelm Killmayer vertreten, während Sandeep Bhagwatis Nirgun Bhajan (2013) für Blockflöte und Schlagwerk wiederum dessen Schülergeneration zu Wort kommen ließ. Aufgespannt in diesem Spannungsbogen aus Vergangenheit und Zukunft wirkten die sechs zwischen 1959 und 1973 entstandenen Kompositionen Killmayers als transhistorische Mittler dieser musikalischen Welten. Das zeigte sich auch am zentralen Freitagabend, an dem in zwei Konzerten das vokale und das instrumentale Schaffen Killmayers auf dem Programm stand: „Per Voce“ und „Per Strumenti“ präsentierten den Münchner Freigeist wiederum flankiert von Schülern und ästhetischen Verwandten
In intensiver Zuwendung an das Klavierlied besang Wilhelm Killmayers seine Liebe zu hohen Stimmen: Gerahmt wurde „Per Voce“ in der Black Box des Gasteigs von zwei seiner großen Liedzyklen für Klavier und Sopran: Zu seinem Frühwerk zählt die klingende Huldigung der weiblichen Anatomie Blasons anatomiques du corps féminin (1991), während die Sappho-Lieder erst 2008 vollendet wurden. Beide belegen die liebevolle Lobhudelei, die Jörg Widmann im Rahmen der Festival-Hommage formulierte: „Frei wie ein Vogel“ sei Killmayers Ästhetik – „klar und licht“, aber auch „vergnügt und auratisch“. Ihre künstlerische Kraft gewinne seine Musik durch das spannungsgeladene Duett von „Monotonie und Überraschung“: der Komponist hätte die „kleinen Katastrophen“ geliebt, die kleine Abweichung, die seinem vordergründig einfachen Werk verstörende „Différance“ einhauche. Es sei an der Zeit, dass die Avantgarde Killmayer als einen der ihren anerkenne und sein Werk pflege – das gälte insbesondere für die Münchner Konzertveranstalter, fügt er mit kulturpolitisch gehobener Augenbraue fort.
Das Programm verifizierte Jörg Widmanns Charakterisierung: Wilhelm Killmayers Humor zeigt sich in den Blasons anatomiques du corps féminin, der hinreißend von Andrea Oswald gesungenen Hymne auf den weiblichen Körper für Sopran und Klavier. „Le pied“ ist von übermütigen Figurationen geprägt und wie „La bouche“ von diskontinuierlichen Pausen durchzogen. „Le genoil“ schwingt stolz und polyphon, „Le sourcil“ hymnisch und schön. Eine hochlagige Repetition durchdringt „Alayne chaulde“, während durch „La main“ und das Schlusslied „O lieu solacieulx“ ostinate Achtelfiguren pendeln: in seiner charakteristischen Mischung von ‚Monotonie und Überraschung‘ besingt Killmayer den Ort der schönsten Freuden in entrückter Exaltiertheit.
Seine Suche nach der leichten Abweichung, der ‚kleinen Katastrophe‘ zeigt sich in Die Schönheit des Morgens, von Jörg Widmann eingerichtet für Klarinette und Klavier: „Was könnte in Konzerten Neuer Musik verstörender sein, als ein D-Dur-Konzert“ – der Komponist und Klarinettist spielt nicht selber, stattdessen zeigt der junge Thorsten Johann sein beachtliches Können, am Klavier begleitet von Moritz Eggert mit der ihm eigenen Leichtigkeit, bevor die Uraufführung seines eigenen Papyrus der Sappho (Tithonos) auf dem Programm steht. In seiner klingenden Hommage und klanglichen Erinnerung an Killmayer überlässt sein Nachfolger auf der Münchner Kompositionsprofessur seinem pianistischen Kollegen Gerold Huber die Begleitung von Andrea Oswald. Gemeinsam intonieren sie auch die hallend ineinandergreifenden und hymnisch aufstrahlenden Akkorde von Luca Lombardis Cinque frammenti di Saffo, während Claus Kühnl bereits 2010 die griechische Poetin in seinen Fünf Gesängen nach lyrischen Fragmenten der Sappho nebst einem Alterslied mit einer tieferen Frauenstimme zu Wort kommen ließ, das die Mezzosopranistin Silvia Hauer in ruhiger Ausstrahlung zu den äolsharfengleichen Klängen des Klaviers ergriff.
Licht und klar, tiefgründig und vergnügt, monoton und differenziert sind auch die Sappho-Lieder Wilhelm Killmayers, auf die sich seine Schüler und Wegbegleiter beziehen und die am Ende des Programms das zuvor Gehörte einholen und überspannen. Jörg Widmann und Moritz Eggert haben recht, wenn sie das Andenken des von der seriellen Avantgarde verschmähten Münchner Komponisten verteidigen, indem sie sein viel zu selten gehörtes Repertoire mit tollen Interpreten auf die Bühne heben. Doch bei aller Wertschätzung können konzertante Überlängen, für die sich die Neue-Musik-Szene besonders anfällig zeigt, Wohlwollen in Anstrengung umschlagen lassen: Ein Konzert von 18.00 bis 20.40 Uhr stattfinden zu lassen, wenn um 21.00 Uhr eine weitere nennenswerte Veranstaltung stattfindet, ist eine Zumutung. Zumal dem leicht beizukommen gewesen wäre, wenn man schweren Herzens auf Markus Schmitts zweifelsfrei reizvollen „Jodler und Juchetzer für Klarinette solo“ Alpluft und die leichtfüßig auf ihren Widmungsträger Wilhelm Killmayer weisende Bagatelle Nr. 10 von Manfred Trojahn verzichtet hätte.
Trotz des konzertanten Übergewichts, lohnt der zweite Teil des Abends. Obwohl der Carl-Orff-Saal trotz des Engagements des Ensemble Modern unter Pablo Druker leider viel zu leer bleibt, zeigen die vier zwischen 1957 und 2009 entstandenen Kammermusik- und Ensemblewerke die ganze wandlungsfähige Vielfalt von Wilhelm Killmayers Schaffen „Per Strumenti“ in konzentrierter Form:
Seine Kaskaden (2008) für Klarinette und Violoncello versprühen einen spröden Sog, während die enervierend hochlagige Monotonie seiner Fantasie (1992) für Violine und Klavier fast wie harmonisch angereicherte minimal music anmutet.
Vor einem zweiten Killmayer-Block wird eine Uraufführung von Oscar Strasnoy eingeschoben: Flashback beschäftigt sich mit Erinnerungsfragmenten, die unter Einsatz eines Plattenspielers klangnostalgisch belegt werden. Die Komposition hat ihre starken Momente, insbesondere wenn das zehnköpfige Ensemble mit der Stimme von Band in einen rhythmisierten Dialog tritt, der an Peter Ablingers Voices and Piano erinnert – allerdings ohne deren Klangwitz zu besitzen.
Mehr davon beweist Wilhelm Killmayer in Paradies (1972) für Klavier zu drei Händen, in dem die beiden Pianisten irrwitzige und klangvolle Possen um die Vormacht auf den schwarzen und weißen Tasten reißen. Gänzlich verschieden wirkt Per nove strumenti (1968) mit seinem zaghaften Beharren auf Einzeltönen zwischen konzise gesetzten Pausen, die im spärlich besuchten Carl-Orff-Saal allerdings an Wirkmächtigkeit einbüßen. Auch die atmosphärischen Tre pezzi für Trompete und Klavier vermögen trotz skurriler Steigerung mit dissonantem Clusterende die Leere nicht gänzlich zu füllen. Das gelingt eher mit der selten zu hörenden Musik für Jazzinstrumente, die das Ensemble Modern in eine präzise überzeichnete Big Band verwandelt und mit kunstvoll verschachteltem und tiefgründigem Witz auch auf dem Mond Stimmung erzeugen würde. Entstanden ist diese klug avancierte und von unzähligen ‚kleinen Katastrophen‘ durchzogene Musik übrigens 1957: ein Jahr, bevor John Cage in Darmstadt den paneuropäischen Klub der seriellen Musik aleatorisch sprengte und den Innovationsimperativ der Nachkriegsavantgarde einmal mehr generalüberholte – während Wilhelm Killmayer davon unberührt und unbeirrt seiner ganz eigenen Ästhetik treu blieb.