Giuseppe Verdis „La Traviata“ gilt als eine der meist gespielten Opern, ein Merkmal ihrer Beliebtheit. Auch das Theater Lübeck wollte sein Publikum nicht lang darben lassen und offerierte ihm nach nur sieben Spielzeiten erneut die großen musikalischen Momente, das Vorspiel mit dem zauberhaften Beginn und dem schwelgenden Liebesmotiv, das immer zündende Trinklied und all das, was danach noch als Gemütsbalsam folgt. Eines sei noch hervorgehoben, weil es in der neuen Inszenierung gesanglich besonders imponierte, das „Pura siccome un angelo“, das engelhaft Reine, das Vater Giorgio Germont bei seiner Tochter bewahrt haben wollte. Arndt Voß mit Einblicken zur Premiere.
Diese neue Inszenierung brachte sie und ihre Amme (?) zwar als stumme Zeuginnen zusätzlich mit in die Szene, was die Aussage verstärkte. Aber die eigentliche Wirkung geht und ging auch hier vom Gesang aus, von der Musik Verdis, da kann auf der Bühne ablaufen, was will. Vieles hatte sich der Schweizer Lorenzo Fioroni (Premiere: 14. Juni 2019) dafür erdacht, wollte vor allem das Triviale hemmungsloser Lust und von ausuferndem Vergnügen abbilden, zielte auf das Morbide, das in beidem steckt und das sich mit Krankheit und Tod verbinden kann.
Als Verdi seine „La Traviata“ in Venedig uraufführte, musste er sein ursprüngliches Konzept ändern, musste Rücksicht auf die Befindlichkeit der Zeit nehmen. Das Schicksal einer anderen „vom Wege Abgekommenen“ soll seiner Violetta allzu ähnlich gewesen sein. Das zwang, die Handlung kurzerhand aus der Mitte des 19. Jahrhunderts ins Jahr 1700 zurückzulegen. Fioroni ging einen anderen Weg. Er sah in Violetta eine Hure im Hier und Jetzt, gaukelte aber mit Kostümen und Bühnenbild ein Immer und Ewig vor. Er verhakte sich in dem, was heute in der Prostitution gesehen wird, die Entwürdigung der Frauen und die geile Dummheit der Männer, deren schlimmste Vertreter er mit einer Widderhornkappe krönte, auch den Doktor Grenvil. Der musste sich damit und in Feinrippunterwäsche noch kurz vor Violettas Tod ihrer „bedienen“ – ein Einfall unnötiger Perversität. Dass die Kappe sogar Alfredo, auch dem Vater aufgestülpt wurde, stand dagegen eher in aussagekräftigem Kontrast zu ihrem Charakter.
Eine Kurtisane im Milieu
Entsprechend drastisch führte die Regie in das große Gemälde dieser Leidenschaft ein, das Verdi im Sinne hatte. Das gibt einmal wieder zu erkennen, dass nicht der Komponist im Vordergrund stand, sondern die vermeintliche Originalität der Szene. Zu den langsamen, Violettas Tod ahnen lassenden Akkorden des Vorspiels blickt der Opernbesucher auf einen grauen Kubus, auf den nach vorn eine Glasvitrine gesetzt ist, darin als milieugerechtes Ausstellungsstück eine Frau. Das Gebilde steht inmitten der Bühne, davor Müllsäcke, unter denen Beine hervorgucken (Bühne: Piero Vinciguerra). Zum zweiten Teil des Vorspiels zwingt die Drehbühne den Kubus herum und gibt den Blick ins Innere frei, auf eine enthemmte Gesellschaft, deren Gekreisch und Gejohle Verdis Liebesmelodie keine Chance gibt. Was soll’s, mag man sich gesagt haben, sie erklingt ja sowieso noch ein paarmal. In dem etwas herabgekommenen Raum verlustieren sich etliche maskenhaft grell geschminkte Damen und Herren in zumeist derangierter Abendkleidung (Kostüme: Katharina Gault). In diesem Rahmen von exzessiver Lust und Rausch betäubt sich auch Violetta, die in dem ersten Akt nur eins zu sein hatte, sexuell aktiv, selbst unter einem Tisch. Stimmig dagegen war, ihr Elend vertiefend, dass die Drehbühne immer wieder die Rückseite mit den Müllsäcken in den Vordergrund rückte. Es wurde ihr erbärmlicher Rückzugsort, wenn ihre Krankheit sie packte.
Dass heute eine Kurtisane wie Violetta oder ihr Vorbild, die Kameliendame, nicht moralisch verwerflich genannt wird, sie eher auf Grund ihrer sozialen Abhängigkeit, ihrer Ausnutzung als schutzwürdig gesehen wird, kann man Verdi nicht anlasten, auch Alexandre Dumas d. J. nicht, der die Vorlage lieferte, auch nicht Franz Liszt, der die Kameliendame ebenso verehrte wie Alfredo Germont, ihr Liebhaber auf den Bühnenbrettern. Sie alle fühlten sich von dem bezaubernden und intelligenten Wesen der vielleicht auch ein wenig Frivolen angezogen, erkannten in ihr mehr als nur das bezahlbare Lustobjekt, weshalb das rüde, schmuddelige Sexgetue auf Lübecks Bühne zu kurz greift. Wie sehr zeigt vor allem die Szene mit Giorgio Germont und dessen oben erwähnter erster arioser Beitrag im Duett mit Violetta, mit dem er ausdrückt, dass sie auf seine Familie einen Schatten hätte werfen können, würde sie an ihrer Liebe zu Alfredo festhalten, der sie zugleich in ihrer Menschlichkeit anerkennt. Es ist eine Szene, die berührt, wie der ganze zweite Akt, weil hier der Regie die Hände gebunden waren. Sie stimmte, weil der Gesang der Protagonisten hier kaum durch Bühnenaktionen gestört wurde.
Stimmen wie auf großen Bühnen
In der Mexikanerin Maria Fernanda Castillo, Ensemblemitglied seit Beginn dieser Spielzeit, hatte die Aufführung für Violetta eine unerhört wandlungsfähige Darstellerin, der man selbst das äußere Gehabe im ersten Akt abzunehmen bereit war. Ihre Stimme passte sich dem Getue an, war herb, teils schrill. Unfasslich dann, wie sie es im zweiten Akt schaffte, sich zu verändern, ihrer Stimme in der Höhe die warme Leuchtkraft zu geben, sich gleichzeitig die Leidenschaft zu bewahren, mit der sie ihre Liebe verteidigte, um dann doch zu entsagen. Das waren ganz große Momente, an denen auch ihre Partner, zunächst der Koreaner Jaesig Lee als jugendlich strahlender Tenor, dann vor allem Gerard Quinn als Vater ihr wunderbar zuspielten. Quinn hatte die Rolle bereits vor sieben Jahren beachtlich gemeistert, schien hier im Zusammenspiel noch intensiver, noch nuancierter geworden zu sein.
In weiteren Rollen machte sich einmal wieder die Zusammenarbeit mit der Musikhochschule Lübeck im Opernelitestudio bezahlt. Die Ukrainerin Iuliia Tarasova als temperamentvolle Flora gehört dazu, auch die Koreanerin Angela Shin als beseelte Annina, dann ihre Landsmänner Hojong Song als Vicomte Gastone und Beomseok Chjoi als Baron Douphol, stimmlich alle überzeugend wie Szymon Chojnacki als Marquis d’Obigny oder Taras Konoshchenko als Doktor. Gesanglich, auch darstellerisch war das ein vollkommener, abgerundeter Genuss, den sowohl der agile Chor (Leitung: Jan-Michael Krüger) als auch die sensibel gestaltenden Lübecker Philharmoniker unter der differenzierenden Leitung von Manfred Hermann Lehner bemerkenswert erweiterten.
Fazit
Diese „La Traviata“ war ein Opernerlebnis feiner Art, zurecht bejubelt. Heftige Buhs gab es für die im Ansatz mögliche, in vielen Einzelheiten unglückliche Regie, der man vor allem mehr Dezenz im Szenischen gewünscht hätte. Die aufgesetzten Obszönitäten wirkten wie bloße Effekthascherei.