Im Opernhaus Erfurt prangen Projektionen eines riesigen Blüten- und Blumenozeans über Romeo und Julia, die als Greise sterben. Von Shakespeares Liebestragödie bleibt in Arturo Rosatis Libretto nur das Gerüst, dafür gibt es drei ins Gigantomanische geweitete Chor- und Genreszenen. Aber auch jede Menge Raum für großartige, flutende, leidenschaftliche, hybride Musik von Riccardo Zandonai , dem aus Rovereto stammenden Komponisten und Konversatoriumsdirektor von Pesaro. Uraufgeführt wurde das riesige Opus „Giulietta e Romeo“, das man nach 105 Minuten wie erschlagen verlässt, am Teatro Costanzi in Rom 1922.
Riccardo Zandonai (1883-1944) gehört zur letzten Generation der Komponisten im Bann des langen 19. Jahrhunderts, die mit einer erweiterten Tonalität, einem riesigen Aufwand und Anforderungen zwischen Spätromantik und Moderne innehalten. In gemäßigter Haltung versuchte Zandonai im italienischen Faschismus seine künstlerische Unabhängigkeit zu bewahren.
Den stellenweise monströsen Gestus seiner Oper Musik bebildern Erfurts Generalintendant Guy Montavon und sein Bühnenbildner Francesco Calcagnin in sinnfälligen und sinnenschmeichelnden Bildern. Der erste Akt spielt im Klassenraum eines Internats, der zweite im Mädchenschlafsaal. Dort bleibt offen, ob die Auseinandersetzung Tybalts, bei Shakespeare bekanntermaßen Giuliettas Vetter, neben Vorwürfen über ihre Ehrlosigkeit vor allem sexuell Übergriffiges meint. Romeo – so will es die Mise en Scène - erfährt erst zwanzig Jahre später durch die Ballade eines Sängers von Giuliettas vermeintlichem Tod. Das ist die bekannteste und auch stillste Szene der Partitur, die Wan Whi Choi als trauriger Arlecchino zum Kabinettstückchen mir allerfeinstem tenoralen Piano macht. Bei der von stumpfen Paukenschlägen aufgeheizten Parforce-Tour Romeos von Mantua nach Verona, der italienischen Antwort auf den Walkürenritt, sieht man in Erfurt Projektionen von Luftangriffen. „Apocalypse now“ mit ästhetischem Überreiz!
Das wird nur deshalb von der aufgepeitschten Sterbeszene übertroffen, weil Zandonai das Finale ganz kurz hält. Trotz lautstarker Bewunderung und Begeisterung kann der Schlussapplaus die Phonstärken dieser Oper nicht toppen.
Bizarr und spannend: Riccardo Zandonai wuchtete zwei Jahre vor dem Tod Giacomo Puccinis diese monströse Version von „Romeo und Julia“ (sehr) frei nach Shakespeare auf die italienischen Opernbühnen. Sein Klangrausch ist subtiler als „Turandot“, aber für Shakespeare-Kenner in ihrer dramatischen Vereinfachung und Konzentration mindestens so anrüchig wie die Opern Bellinis und Gounods (letztere in Erfurt ab 13. Mai). Warum? Ganz dem üppigen Zeitgeschmack verpflichtet, der im Kielwasser Sigmund Freuds die Spannungsgewalten zwischen Sexus und Thanatos auslotet, fabuliert Zandonai einen archaisierenden wie modernisierenden Operntraum: Intelligenter als Puccini und verschwenderischer als Mahler und Wagner gleichzeitig.
Am Pult des Philharmonischen Orchesters Erfurt und der Thüringen Philharmonie Gotha bändigt Myron Michailidis, Chef des Thessaloniki Nationalorchesters und der Oper Athen, die Klangmassen und bringt sie immer wieder zur Explosion. Doch die Musiker setzen den Sängern mit Forte-Ballungen, archaisierenden Gitarren- und Orgelklängen aus pseudoarchaischer Vergangenheit gar nicht so zu, wie man das vermuten könnte. Zandonais bewundernswürdige Instrumentationskünste steigern vor allem in den mittleren Tonlagen den Stimmprunk der Sänger, dass diese weitaus weniger Druck geben müssen als es den Anschein hat. Dennoch sind die drei zentralen Partien auch so imponierende Kraftakte: Eduard Martynyuk ist Romeo mit einem virilen Strahl und dunkler Glut wie für Verdis Otello, rubinrote Leidenschaft satt.
Jomante Šležaite vereint jugendliche Wärme und raumsprengende edle Strahlkraft. Siyabulela Ntlale als Tebaldo muss sich bis zum Todesstoß durch Romeo nicht schonen. Die Stimmen fluten durch Verse, in denen Romeo sich einen hingabebereiten Kelch nennt und Giulietta in phallisch attackierende Melodiespitzen hochschraubt, immer und immer wieder. Trotzdem sind die Liebenden angesichts ihres Umfelds von erotischer Unschuld: Die Rivalitäten zwischen den Veroneser Familien Montecchio und Capuleto schwappen vom Karneval in einen infernalischen Dämonensabbat einer unnachlässig erotischen und kriegerischen Aggressivität. Die vielen kleinen Soli verdichten noch mehr dieses monumentale Fresko, für das Andreas Ketelhut den Opernchor fürwahr energisch gepanzert hat. Hierzulande weiß man von Riccardo Zandonai viel zu wenig, deshalb sollte man sich auch die zufällig gleichzeitige Produktion von „Giulietta e Romeo“ am Staatstheater Braunschweig nicht entgehen lassen. Diese Musik, ihre Trunkenheit und sexuelles Rumoren haben eine Überzeugungswucht, der man sich ausliefern kann wie zu einem verbotenen, unanständigen Genuss. Sinnliche Kultur mit Überreiz, orgiastische Triebhaftigkeit und Kampfgeist, stetiges Aufbäumen ohne Erschöpfung. Und immer wieder magische Momente: Zandonais Abendrot über Mantua und Minnetod in Verona ist ein noch zu wenig erschlossenes, betörendes und scharfes Gift.
Wieder auf dem Spielplan: 19., 28. April (19:30), 4. Juni (18:00), 11. Juni (15:00) - Theater Erfurt; www.theater-erfurt.de, Karten und Infos unter Tel: 0361-2233155