Das Konzert fand Ende Oktober 2020 im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie statt. Eines der letzten vor dem öffentlichen Verstummen. Aus der November-Live-Konzertstille wird jetzt wohl eine bis Ende März werden. Zumindest an den großen Theatern und Konzerthäusern. Der Bericht von Konstantin Parnian aus der Rückschau wird wie ein Nachhall in die akustische Leere.
Ob man die erneuten Verlängerungen und Verschärfungen der Maßnahmen zum Eindämmen der Pandemie als zweiten, dritten oder vierten Lockdown begreift ist irrelevant. Musik und darstellende Künste gelangten seit dem 13. März 2020 nicht zu etwas zurück, das annähernd als Normalzustand zu bezeichnen wäre. Wie auch in einem Jahr voller Ungewissheit? Doch es gab diese Zeit, die nun schon wieder so fern scheint, als zwischendurch Veranstaltungen stattfanden. Zu den letzten, die glücklich auf einen Termin vor dem zweiten großen Stop fielen, zählt auch das Konzert „Hymnen der Zeit“, das der Komponist Kaan Bulak mit Streichensemble sowie der Sopranistin Sarah Aristidou im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie veranstaltete. Den eigenen Kompositionen stellte Bulak Alte und älteste Musik entgegen. Eine Reflexion über das Rückbesinnen in mehrfacher Weise.
Diffus faden erste Klänge im verstummten Kammermusiksaal ein, erlangen langsam Struktur und Rhythmus – zerbröseln alsbald wieder. In die Tongrundierung finden sich allmählich die Streicher ein. Doch wieder und wieder implodieren die Tongestalten, das klirrende Zittern der Tremoli. Wie ein Fremdkörper schält sich der Wohlklang aus diesen unbestimmten Flächen. Nicht nur aus dem Eröffnungsstück „Edit for Strings“, nein, aus allen Stücken des jungen Komponisten Kaan Bulak spricht ein Hang zur Romantik: kein Zitat auf die Epoche, vielmehr Ausdruck romantischer Geisteshaltung. Geradezu gnadenlos konfrontiert er in seiner Musik das klassisch Schöne mit der trügerisch trüben Elektronik. Ja, selbst wenn die Technik nicht teilhat, scheint sie als Metagedanke mitzuschwingen. Eine Auseinandersetzung durch Abstoßung und Annäherung, bei der sich der ›schöne Ton‹ einer wirklichen Synthese stets entzieht.
Konfrontation
So liest sich auch die einsame Stimme in Bulaks „Cello Sonata No. 1“ nicht nur als Aufraffen, sondern auch als Entgegentreten. Ein Ringen nicht nur mit dem Anderen, dem Fremden, sondern auch mit sich selbst im Monolog, da das Andere womöglich längst Teil von einem geworden ist. Die Annäherung an einen Konflikt durch ambivalente Ansätze: langsames Herantasten schlägt um in energische Versessenheit – exponierte Einzeltöne entwickeln sich zu ausladend weiten Bögen. Schließlich ergießt sich das angestaute Reibungspotenzial in temperamentvollem Tanz. Hingebungsvoll steckt Cellist Stefan Hadjiev seine ganze Körperkraft in die musikalische Interpretation. Pulsierend geht sein Fuß mit und Gefühl wird dabei so unmittelbar erfahrbar, dass es kein Entziehen gibt. Auf ganz andere Weise gehen die Zwischenstücke nahe: die für Streicher arrangierten Madrigale Gesualdos. „Quel no crudel“ geradezu beschwingt vorgetragen verliert nicht die tiefsitzende Melancholie lieblicher Todesumarmung. Schmerzlich tönt „Se la mia morte“, doch auch versöhnlich wie ein aufeinander Ein- und Abstimmen. Luft schwingt, ohne dass Aerosole austreten.
Zusammenrüttung
Die Idee des Zusammenfindens prägt auch den Beginn des „String Quartet No. 1“. Ist gemeinschaftliche Unsicherheit erst einmal überwunden, breiten sich musikalische Gedanken aus, die nacheinander aufkommen, sich entwickeln und wieder verebben – collageartig und doch ineinander verzahnt. Schließlich ein Spiel der Lagen, durchzogen von Glissandi, das in einen Wettlauf der Instrumente kippt bis sich alles in einen langen Celloton auflöst. Geräuschhaft werden neue Flächen aufgebaut: Kratzen mit dem Bogen auf dem Instrumentenrücken, ein Schnipsen mit dem Finger. Die verstreuten unfasslichen Klangereignisse verweisen auf das Instrumentarium der Elektronik und lassen ein Hinübergleiten in diese erwarten. Stattdessen aber findet der Wohlklang zurück zu seinem lyrischen Ton, Melodik erhebt sich und bereitet sich Bahn. Droht dieser neugewonnene Kern ins allzu illustrative abzurutschen, trüben ihn einzelne Einfälle, schöpfen aus dem entstandenen akustischen Nebel und bewahren damit vor dem Vergreifen am Plakativen. Doch eine stetige Fortspinnung liegt unter dem Schleier verborgen, weist bereits voraus auf den abschließenden fugatoartigen Teil. Im antagonistischen Wechsel von An- und Entspannung kulminiert das Ganze schließlich in einem weit ausgedehnten Atem, der das Volumen des gesamten Saals füllt.
Ineinadergreifen
Eine neue Ebene eröffnet das „Augmented Piano Quintet“ von Kaan Bulak durch den Flügel als Mittler zwischen natürlicher und elektronischer Sphäre. In umschlungene Streicher tritt ein glitzerndes Klimpern ehe sich Klavierklänge regen. Schwälle verzerrten Nachhalls öffnen ausufernde Räume – wabernde Tastenanschläge verformen sich zu gleißendem Schimmer – Kontraktion und Verflüssigung – der immer wiederkehrende Widerstreit drängt zur Zusammenkunft, zur Genesung: Vereinigung der Streicher im quasi homophonen Satz, untermalt von archaischen Trommelschlägen. Ein Triumphhymnus der im aufsteigenden Glanze abschließt. Im Arrangement von „O vos omnes“ des spanischen Komponisten und Palestrina-Nachfolgers TomaĆ Luís de Victoria gesellen sich die Stimmen fragil zueinander, erstarken aneinander, am Zusammenspiel, an der Synchronisierung. Vereinigung in einem weltumarmenden Schluchzer, der mit der pickardischen Terz doch noch hoffnungsvoll endet.
Überzeitlichkeiten
Als früheste Komponistin überhaupt gilt die byzantinische Äbtissin Kassia aus dem 9. Jahrhundert. Die Tonalität ihrer orthodox-christlichen Hymnen ist geprägt von der Spannung zwischen Fremdartigkeit und Universalität. „Pelagia“ wird von Geige und Bratsche mit viel Portamento gegeben, dazu kommt ein Surren in den Boxen, nahe am Infraschall. Kaum begonnen, ist das Stück schon wieder aufgegangen in der Stille. Mit einem Kyrie-Ruf beginnt der Abschluss des Abends: „The Fallen Women“ und „Leaving the Wealth of Her Family“ trägt Sarah Aristidou mit intensiver Tongebung im mittelalterlichen Griechisch vor. Kraftvoll und doch graziös meistert sie die schnellen Sprünge der Figurationen durch Lagen und Register. Die konzentrierte Vollstimme schlägt bewusst auch mal ins klangvolle Rufen um, das schon an Belting erinnert und in besonderer Weise Stärke zum Ausdruck bringt. Diese Weisen aus fernen Zeiten entrücken in andere Welten, welche doch der unseren so verbunden sind. Ja, das ganze Programm erinnert an gemeinsame Wurzeln und geteilte Erfahrungen, macht nebenbei darauf aufmerksam, dass Geschichte nicht so linear ist, wie es oft scheinen mag und wagt zudem den großen Schritt, in der heutigen Vereinzelung so etwas wie ein großes Ganzes zu suchen. Das ist kühn und keine Frage: Diese Kunst will ästhetisch sehr viel. Aber sie will! Und das tut gut.