Hauptbild
Wir aus Glas. Foto: © Eike Walkenhorst
Wir aus Glas. Foto: © Eike Walkenhorst
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Festivalerlebnis als musiktheatrales Happening – Das Erste Biennale-Wochenende in München

Publikationsdatum
Body

Im Vorfeld der Münchener Biennale für neues Musiktheater ist das Publikum dazu angehalten, sich einen Stundenplan zu bauen: einen persönlichen Wegweiser durch das Programm zum Thema „Privatsache / Private Matters“ mit seinen insgesamt fünfzehn Neuproduktionen, deren Premieren sich teils überschneiden. Das heißt, man muss Entscheidungen treffen; und es bedeutet, dass niemand in diesem ersten Biennale-Drittel genau dieselben Dinge erlebt hat. Eher gleicht das Festivalerleben einem interaktiven Computerspiel, in dem eigene Entscheidungen den Spiel- und Rezeptionsfluss bestimmen.

Mein Biennale-Fahrplan startet an diesem heißen Samstagnachmittag mit Yasutaki Inamoris WIR AUS GLAS in der Muffathalle: davor herrscht sommerliches Treiben an und in der Isar, drinnen Dampfbad-Atmosphäre. Die schlauchartige Bühne stellt Stationen aus der Banalität des Alltags vor einer rollenden Zuschauertribüne voyeuristisch aus: von der Küche mit ihrem Smoothiemixer, über das Wohn- und Esszimmer, bis ins Schlafzimmer nebst Bad, wo zwei Frauen und drei Männer eine Art musiktheatrale Version vom ‚Gott des Gemetzels‘ performen: „Ich mag meine Haare“ – „Du bist zum Kotzen“. Die Bläser (Posaune, Tuba, Fagott, Trompete) sowie Geige und Cello, begleiten die Sänger nachäffend und betreiben instrumentale Mimikri von Alltagshandlungen: Zähneputzen spiegelt sich in Tremolo der Geige, die Trompete küsst schmatzend, während die Posaune aufstößt. Das Drama dieser modernen Oper liegt nicht in bohrendem Herzschmerz oder mörderischen Eifersuchtskämpfen, sondern in einer grauenhaft kleinbürgerlichen Alltagsenge. Höhepunkt ist eine Szene, die man das letzte Abendmahl nennen könnte: Instrumente, Sänger und der auf der Zuschauertribüne platzierte Chor gestalten eine fast skandalös klangschöne Soiree, danach hätte Schluss sein sollen.

Dieser Auftakt wirkt fast wie eine Entgegnung auf die Kritik an der vergangenen Biennale mit ihren vielen installativen Formaten, die einer allzu große Entfernung vom MUSIKtheater bezichtigt wurde. Mehr Theater als Musik ist EIN PORTRAIT DES KÜNSTLERS ALS TOTER von Franco Bridarolli im nicht weniger dampfbadtauglichen Schwere Reiter. Als Ouvertüre involviert der wunderbare Alleinunterhalter und Nachdenklichmacher Daniele Pintaudi das Publikum mit persönlicher Ansprache in die von Davide Carnavali inszenierte Geschichte: Ausgangspunkt ist die Erbschaft einer Wohnung von Franco Bridarolli, einem während der Militärdiktatur Argentiniens verschwundenen Komponisten, die im Theaterinnenraum auch die Guckkastenbühne bildet: „Das Schweigen der Toten ist leichter zu ertragen, als das der Desaparecidos“. Die Produktion gibt dem verschollenen Komponisten eine Stimme, der auch in seiner expressionistisch angehauchten Klaviermusik zu Wort kommt. Anrührend und irgendwann erschöpfend nimmt einem die Hitze – oder doch eher die Geschichte? – die Luft zum Atmen.

Es ist allerdings nicht so, dass Manos Tsangaris und Daniel Ott plötzlich eine konzeptionelle Wende hingelegt hätten, oder dass die jungen Musiktheatermacher plötzlich ihren Hang zum Installativen verloren haben.

Das beweist die frischgebackenen Siemens-Förderpreisträgerin Clara Iannotta mit SKULL ARK, UPTURNED WITH NO MAST. Die whiteBOX auf dem Werksgelände ist zunächst in völliges Schwarz getaucht. Im Dunkel wird eine raumgreifend verästelte Skulptur aus Halogenröhren erahnbar, in der vier Solistinnen der Stuttgarter Vokalsolisten wie Garnelen in einem Schwamm stecken: genau dies ist der skurrile Ausgangspunkt dieser musiktheatralen Reflexion, welche die Fabel vom isolierten Leben zweier Garnelen erzählt, die als Larven in einen Gießkannenschwamm gespült wurden und dort aufwuchsen. Iannotta simuliert dem Publikum die fast vollständige Einschränkung privater Bedürfnisse und Instinkte, unterstützt von einer bedrückend organischen Soundscape, in der das stimmliche Potential der vier Sängerinnen leider kaum abgerufen wird.

Ebenfalls von der installativen Sorte ist Marek Poliks „technoide Skulptur“ INTERDICTOR in der Villa Stuck. Auch hier wird das Publikum in völliger Dunkelheit eingelassen, um die Überraschung nicht vorwegzunehmen: den Blick auf die raumschiffartige Konstruktion, die zugleich „Installation, Klangmaschine und Bühne“ ist. Zu Beginn sind die Bildstörungen und das sensorische Spiel mit wabernden Klängen noch reizvoll, doch tendiert das Überraschungsmoment der Raumschiff-Saga, in der ein Einzelkämpfer wie Matt Damon als „Marsianer“ versucht Energie zu beschwören, zunehmend gen Null.

Energie bewegt auch Stefan Prins, der sich gemeinsam mit dem Choreographen Daniel Linehan dem THIRD SPACE widmet: einem Raum, der nicht in die konventionellen binären Systeme unterteilt werden kann und der weder rein real noch vollständig virtuell ist. In der Ouvertüre werden spärliche Videosequenzen auf eine Leinwand projiziert, welche die Bühne im Carl-Orff-Saal verdeckt. Hinter ihr tritt dann Bas Wiegers hervor, um mit Blick zum Publikum sein Dirigat technoid geräuschhafter Klänge zu beginnen. Es ist eine dramaturgisch reizvolle Wendung, die das Publikum genauso involviert wie die Performer, welche einen Teil der Zuschauer später auf die Bühne holen werden. Als sich der Vorhang öffnet wird der Blick freigegeben auf eine chaotische Szenerie, in der sich das Klangforum Wien als Erzeuger der scheinbar elektronischen Musik zu erkennen gibt. Diese virtuose Hybridisierung der analogen und digitalen Klangfarben weist Prins einmal mehr als gewandten kompositorischen Anwender neuer Medien aus, allerdings fällt die leicht infantile Performance hinter der Klangwucht zurück und ist das Stück leider mindestens eine halbe Stunde zu lang.

Und dann ist da noch Ruedi Häusermanns TONHALLE. Auf dem „Max-Joseph-Platz 1b“, direkt gegenüber der Bayerischen Staatsoper, hat der Schweizer Altmeister unter den ansonsten 25-35jährigen Komponisten ein detailreich und liebevoll gestaltetes Konzerthaus en miniature gebaut. Mit seinen wenigen Quadratmetern verfügt es über eine funktionierende Garderobe und bietet Platz für 20 (schlanke) Menschen und eine Bühne, die gerade groß genug für das Hensode-Quartett ist. Die Musik ist mit wenig Bogen und viel Dämpfern erstaunlich virtuos auf die akustischen Bedingungen abgestimmt. Mit ironischem Witz moderiert der wunderbar schräge Thomas Douglas das Konzert, begrüßt die außergewöhnliche Auslastung seines Etablissements oder macht das Publikum zum Esel, indem er den Gebrauch des ;Hörtrichters‘ anrät. TONHALLE ist ein Kammerspiel im Wortsinn, das eigentliche Ereignis aber findet um das ‚Tiny-Konzert-House‘ herum statt, zunehmend muss sich das Konzert gegen Klangereignisse von außen behaupten: einer Touristengruppe, lautstarkem Applaus aus dem großen Haus, Baustellenlärm oder dem Gurren von Tauben – mit denen Häusermann auf nur fünf Reglern ein liebevolles Spiel mit Sein und Schein treibt.

Tatsächlich besteht ein besonderer Reiz der Münchener Biennale für neues Musiktheater in diesem ganz persönlichen Fahrplan, mit dem jeder Hörer durch das Programm steuert: dieses interaktive Festivalerlebnis wird selbst zu einem musiktheatralen Happening.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!