Seit Wochen zeigt sich der Bayerische Frühsommer durchwachsen: Regen, Sturm und Hitze wechseln sich unkontrollierbar ab und schaffen damit ein atmosphärisches Ambiente, dass den Start der Münchener Biennale für neues Musiktheater 2016 – der ersten und gespannt erwarteten Ausgabe unter Manos Tsangaris und Daniel Ott – seltsam treffend illustriert.
David Fennessy
Schwül-heiß ging es los in Sweat of the Sun, für das sich David Fennessy von Werner Herzogs „Fitzcarraldo“ inspirieren ließ: Der kühne Bauplan eines Opernhauses im peruanischen Dschungel und die dafür notwendige Bergüberquerung eines Schiffes wurden gleichermaßen zur Stilisierung eines Opernereignisses wie zur Metapher einer „Eroberung des Nutzlosen“. Das gleichnamige Logbuch Herzogs zu den Dreharbeiten nahm Fennessy als Vorlage und legte mit der ersten Premiere der Biennale 2016 einen Heißstart hin: Die Szenerie läuft bereits, als sich das Publikum seine Plätze, behindert wie geleitet von den Darstellern, selbst suchen muss. Erst nach und nach sortiert sich die flirrende Summe der Sinneseindrücke: Leinwände zeigen körnige Szenen aus Herzogs Dreharbeiten, an den Wänden reflektieren Projektionen von allerlei Urwald-Getier, irgendwo von Band kommen Stimmen und auf der Bühne ziehen die Musiker des Münchener Kammerorchesters ihre Glissandi – trotzig wie Klaus Kinski alias Fitzcarraldo das Schiff über den Berg. Ihre Bühne ist in den Boden eingelassen, umringt von einem Tribünenaufbau, der das Publikum die Szene überblicken lässt. Mit zunehmender Intensität setzen auch die Sänger Fennessys atmosphärische Untertitelung des Herzog-Originals in Klang – und wenn sie auch keine Berge versetzen, legen sie doch einen sehr gelungenen Start in die wetterfühlige Biennale 2016 hin.
Simon Steen-Andersen
Die schwüle Hitze wandelt sich in Simon Steen-Andersens if this then that and now what allerdings in das von Münchner Migränepatienten gefürchtete Wetterphänomen. Schneidend und seltsam klar wie der Föhn, entwirf der Däne eine Meta- und Selbstreflexion von der Komposition eines Musiktheaters, die er von zwei Schauspieler-Alter Egos wortreich in Szene setzen lässt. Das Spiegelspiel der Repräsentation beginnt mit der Suche nach dem perfekten ersten Satz, den Steen-Andersen passend zum Motto der diesjährigen Biennale – OmU – mit opernhaften Übertiteln illustriert. Eine spannende Idee, von der ausgehend ein kluges Set an Bildern, Bewegungen, Gesten und Klängen entworfen wird. Allerdings trüben Wolken das heitere Treiben: Die Produktion zieht sich in unnötige Länge, nach spätestens einer Stunde hat man den Kern der durchaus faszinierenden Metareflektion verstanden und sie fängt an die Nerven zu reizen wie das ausbleibend-erlösende Gewitter bei Föhnlage. Als zweistündiges Bühnenwerk ist der konzeptuelle Gedanke zu wenig, zumal die musikalische Ebene recht dünn bleibt. Die comichaft belegten Klang- und Bewegungsmuster – Ploppen für Schritte, Abwärtslauf beim Treppensteigen oder musikalische Zitate – sind durchaus wirkungsvoll, in Summe aber nicht genug für ein abendfüllendes Werk.
Grundsätzliches Dilemma
Dieses Manko weist auf ein grundsätzliches Dilemma im ersten Drittel der Münchener Biennale für neues Musiktheater 2016 hin: Streng genommen kann bislang nur Fennessys schwüle Herzog-Vertonung als MUSIKtheater bezeichnet werden. Steen-Andersens kompositorische Metreflexion ist eher musikTHEATER, wenn auch von großartigen Akteuren und einer komplexen Produktion getragen. Die weiteren Beiträge der ersten drei Festivaltage sind wörtlich durchwachsene, also hybride Ausdrucksformen mit performativ-aktionistischem Gestus, die eine seltsame Affinität zu ‚Labyrinthen‘ zeigen.
The Navidson Records
Im „Lothringer13“ etwa – einem Quartier der freien Kunstszene, dessen Einbeziehung den Biennale-Machern zu danken ist – hat man einen Irrgarten gebaut: The Navidson Records ist untertitelt mit „Musiktheater als Installation“. In 30-minütigem Abstand werden Besuchergruppen ein- und losgelassen zur selbstständigen Erkundung der Szenerie und der „Suche nach Zuständen“. Es geht vielversprechend los: Man bewegt sich suchend von Tür zu Tür und erhascht zunächst nur Silhouetten davonhuschender Interpreten, bevor man sich ein einer Sackgasse wiederfindet. Wie und wo bitte geht’s weiter? Einer der Schauspieler hilft – leider aber zu deutlich: Eine Tür ist einzutreten, aber anstatt den Besuchern Zeit zu geben um sich zum Schlag zu überwinden, macht der Akteur es selbst – dabei hätte ein kleiner Anstoß genügt, um die Gäste in körperliche Szene zu setzen. In der Folge fühlt man sich innerhalb der partizipativ angelegten Installation dagegen eher allein gelassen: Man wandert durch diverse Räume, empfängt aber nur wenige Reize. Auch wenn man die Treppen nach oben geschickt wird, erwartet einen kein Feuerwerk und kaum Überraschendes. Die Skizzen an der Pinnwand, die den Produktionsprozess dokumentieren, sind nicht uninteressant, aber Interaktion und besonders Musik sucht man zunächst vergebens. Zwar eröffnet sich unten ein vielversprechender großer Raum voll mit Instrumenten – allerdings ohne Musiker. Der Selbstversuch, ob man vielleicht das Publikum als Musiker einsetzen will, wird mit einem Verbot verneint.
Mirko Borscht
The Navidson Records ist ein gutes Beispiel für die filigrane Kipplogik performativer Theaterkonzepte: sie können extrem eindrücklich sein, bedrängen, verunsichern, anregen. Leider aber ist das hier nicht der Fall, zumindest im ersten Slot. Und selbst wenn man hinterher erfährt, dass sich Klang und Szenerie des installativen Musiktheaters im Verlauf des Abends gesteigert hätten: Ein gutes Konzept muss auch den frühen Vogel mitnehmen. So aber verweilt man, weil das „Lothringer13“ ein toller Ort ist und es draußen schüttet. Das nasskalte Motiv setzt sich in einer weiteren installativen Produktion fort, denn ein regennasses Labyrinth erwartet einen auch bei Mirko Borschts Anticlock. Aber: „Pssst! Nichts weitersagen!“ – so lautet das Mantra der Führerin durch dieses Stück, das mit einem überflüssig langen Vorspiel in den architektonischen Eingeweiden des Gasteigs beginnt. Es folgt eine blinde Busfahrt, die sich als Passage in ein Chronotopos entpuppt: Wie Alice im Wunderland verschlägt es das Publikum in eine Welt, in der nicht nur die Uhren anders ticken. Aus einer Sprinkleranlage regnet es, im Einweg-Regencape und mit Gummistiefeln startet man seine Erkundung der organisch triefenden Wunderwelt, umschwirrt von elfenhaften Wesen, die Assoziationen an einen verschrobenen Sommernachtstraum heraufbeschwören. Aber auch hier setzt sich das Manko der vorherigen Produktionen – mit Ausnahme von Fennessys Sweat of the Sun – fort: Man vermisst die Musik.
Zwischenfazit-Fazit und vermeintlich kleinere Produktionen
Zwar macht es Spaß, in der Anticlock-Heterotopie Florence Foster Jenkins herrlich-verschrobene Interpretation der Königin der Nacht von einem tragbaren Plattenspieler zu hören. Auch besitzen die Soundscapes dieser Produktion wie auch der Navidson Records durchaus Qualität und wissen mittlerweile auch konservative Musikliebhaber, dass Geräusch und Stille Musik sein können. Die Öffnung des Musiktheaters gegenüber der hybriden Kunstwelt, die Manos Tsangaris und Daniel Ott mit ihrer ersten Biennale demonstrieren, ist absolut wichtig und richtig für die Gattung. Sie erklärt aber nicht, warum die Expertise der Komponisten so sparsam genutzt wird: Sowohl das Türen- als auch das sommernächtliche Labyrinth hätte eine erkennbare Komposition vom experimentellen Performancetheater abgehoben und die Kraft des Musiktheaters demonstriert.
Wie so oft sind es die vermeintlich kleineren Produktionen wie die gerade einmal einstündige Doppelaufführung von Arno Camenischs Sez Ner und den Pub-Reklamen von George Aperghis, die positiv überraschen: Demonstriert der Schweizer Autor in seiner Deutsch-Rätoromanischen Präsentation seines Romans eine klangfarbenreiche Musikalisierung von rhythmisierter Sprache, sind die für eine Sängerin dramatisch überspitzten Werbeslogans nicht nur witzig, sondern auch eine anspruchsvoll gesetzte und mitreißend performte Komposition.
In Summe muss das Zwischenfazit zur Münchener Biennale 2016 also lauten: Durchwachsen wie der Bayerische Frühsommer. Von einem 'ins Wasser fallen' wie beim Test der deutschen Nationalmannschaft gegen die Slowakei kann allerdings keine Rede sein. Es ist ja erst die Vorrunde gespielt – und abgerechnet wird nach dem Finale.