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Foto: © Kirsten Nijhof/ Oper Leipzig
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Leipziger „Lohengrin“-Lollipop, lohnend?

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Das Spannendste an dieser gekürzten Fassung von „Lohengrin“ ist seine Vorgeschichte, die mindestens bis zum letzten „Tannhäuser“ der Oper Leipzig im Jahr 2018 zurückreicht. Schon steht der Termin der „Lohengrin“-Vorstellung im Paket „Wagner 22“ mit allen Wagner-Dramen in chronologischer Reihenfolge nach Entstehung fest: 30. Juni 2022. Aber das wird ein schon wieder anderer „Lohengrin“ sein als die wegen des Teil-Lockdowns vom 7. auf den 1. November vorverlegte Premiere.

Im März hätte die Koproduktion mit der Oper Leipzig im Gran Teatre del Liceu Barcelona stattfinden sollen. Vorgesehen war als „Lohengrin“-Regisseurin die Bayreuther Festspielleiterin und Wagner-Urenkelin Katharina, zu der die Leipziger Oper seit ihren Bayreuther Gastspielen mit Wagners Jugendopern 2013 verdichtende Kooperationen anstrebt. Katharina Wagner jedoch ließ die Oper Leipzig buchstäblich in letzter Sekunde vor Probenbeginn ihrer „Tannhäuser“-Inszenierung sitzen und bescherte dem Haus am Augustusplatz 2018 so indirekt die vierte Auflage der zur Leipziger Premiere bereits leicht abgestumpften „Tannhäuser“-Regie von Calixto Bieito. Vor der Öffentlichkeit hielt man an der Gewissheit, dass das „Warten auf Katharina“ doch noch Erträge bringt, noch lange fest – sogar, als Barcelona seinen „Lohengrin“ im Corona-Krisengebiet Spanien längst abgesagt und die gesamte Opernwelt der Bayreuther Gralserbin zu deren mehrmonatiger Auszeit Genesungswünsche übermittelt hatte. Natürlich wird dem Intermezzo des gekürzten „Lohengrin“ noch eine echte Neuproduktion folgen und Generalintendant Ulf Schirmer, der schon das Leipziger Remake von Peter Konwitschnys Hamburger „Lohengrin“ im Dezember 2009 dirigiert hatte, in seiner Intendanten-Ära auf drei „Lohengrin“-Produktionen in 14 Jahren kommen - bei maximal fünf Opernpremieren je Spielzeit im großen Haus. Ein innigeres Wagner-Credo und eine größere Sühnebereitschaft nach der früheren Wagner-Dürreperiode Leipzigs geht nicht.

Natürlich ist es eine ehrfurchtsvolle wie wunderbare Überlegung, das Gewandhausorchester als einen der Kulturhaupttrümpfe Leipzigs vor der zweiten Corona-Schließperiode den durch Hygienekonzept ausgedünnten Enthusiasten nochmals in großer Besetzung vorzuführen. Demzufolge war der Applaus in erster Linie eine Liebeserklärung an sein A-Sonderklasse-Orchester mit dem größten Musiker-Stellenplan Deutschlands. Diesmal war der Beifall sogar besonders üppig, obwohl einige Karteninhaber aufgrund vor Ort explodierter Infektionszahlen nicht in die Vorstellung durften.

In seinem Programmheft-Editorial legitimiert Schirmer die Kurzfassung der Dreieinhalb-Stunden-Oper mit häufig in der früheren Wagner-Aufführungsgeschichte praktizierten Strichen – sogar in der legendären Leipziger „Ring“-Inszenierung von Joachim Herz vor 50 Jahren, dessen Brünnhilde-Sängerin Sigrid Kehl am Premierenabend im Publikum saß.

Wer das Festspiel „Wagner22“ als Hommage an den Leipziger Zeitoper-Intendanten Gustav Brecher und damit als Erinnerung an den Uraufführungsskandal von Weills „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ ausrichtet, muss mehr bringen als Vielen etwas und das Außerordentliche mindestens wagen, wenn nicht gar erreichen. Und da reicht es mit diesem „Lohengrin“ nicht ganz zum erwartbaren Höhen-, wohl aber zum sanften Gleitflug. Auf die Gipfel von Peter Konwitschnys vielschichtigen Klassenzimmer-„Lohengrin“, der in Hamburg seit 22 Jahren Kult ist und nicht gut genug für Leipzig war, schwingen sich Patrick Bialdygas Regie, Norman Heinrichs Tische und Jennifer Knothes Alltagsmoden nicht auf. Da werden Ortrud und der Schwanenritter säuberlich nach Hell und Dunkel dualisiert wie im sächsischen Puppentheater. Hämisch grinsend tritt die Heidin Ortrud herbei und drängt Elsa den Brautschleier auf. Stéphanie Müther, die sich mit veritabler und strapazierfähiger Röhre als echter hochdramatischer Sopran in die erste Reihe des europäischen Wagner-Olymps Heroinen singt, kann das bei Joan Anton Rechis Chemnitzer Rummelplatz-„Lohengrin“ und Ingo Kerkhofs Dortmunder „Lohengin“-Inzestphantasie erlernte Psychomaterial weder zeigen noch anwenden. Ihren Schwur an die „entweihten Götter“ schleudert sie auf die zwischen Goetheanum und Thing-Symbolik verortbaren Holzskulpturen des Bayreuther Künstlers Klaus Hack.

An einer „Lohengrin“-Strichfassung mit etwa 60% der Originallänge kann man nur scheitern. Das sichert dem Leipziger „Lohengrin“ schon aufgrund des tollkühnen Risikos und künstlerisch anfechtbaren Vorhabens einen gewissen Respekt. Hier entfällt die lange Vorbereitung von Elsas Traum, Lohengrins erstes Solo vom „lieben Schwan“, das erste Jubelfinale, die zweite Hälfte des zweiten Aktes und vieles aus dem Schlussbild. Der Chor singt aus dem Off und Thomas Eitler-de Lint nimmt für sein Kollektiv, das erst vor kurzem auch in einem Wagner-Konzert prunkte, die Ovationen entgegen.

Es ist ein wirkungssatter und lautstarker „Lohengrin“ trotz Jennifer Holloways musikalischer Differenzierungskraft für eine Elsa, die sich vor dem mit weißen Rosenblättern überstreuten und aus Tischen zusammengebauten Brautb(r)ett lieber kratzt, als dem robusten Schwanenritter im Trenchcoat hingibt. Der König trägt blauen Samt als Sakko und als Krone auf dem Haupt. Schade, dass man Randall Jakobshs charakterstarkes Bassmaterial nicht für die Inszenierung nutzbar machte. Neben der dominanten Ortrud und dem blinden Kläger Telramund, als der Simon Neal kantig auftrumpft, bleibt König Heinrich also belanglos. Der schwedische Tenor Michael Weinius, mehr Kriegsfürst als Liebhaber, weicht in der Titelpartie mit keinem Ton den philharmonischen Sturmangriffen des Gewandhausorchesters, die von der Hauptbühne über die Solisten auf dem hochgefahrenen Orchestergraben ins atemlose Auditorium rasen. Der betörende Piano-Schimmer von Wagners ‚italienischster Partie‘ und das melodische Schwelgen dieser Partitur türmen sich zu unbekümmerter Musizierfreude, die über dynamische Detailzeichnungen geschmeidig hinweg eilt. Denn die im Dienst am treuen Publikum um eine Woche vorverlegte Premiere ist nur das hochkulturelle Lollipop zum Corona-bedingten Wagner-Schweigen, dem mit der nächsten „Lohengrin“-Premiere die umso kalorienhaltigere Wuchtbrumme folgen muss. Außerordentlich ist die Wagner-Pflege der Musik- und Handelsstadt Leipzig durch Sortimentsbreite und Produktdefinition. Dafür ist jeder Jubel für die Oper Leipzig als Rekordhalter berechtigt, denn kein Opernintendant des 21. Jahrhunderts hat mehr Wagner-Premieren im Angebot als Ulf Schirmer – sogar weitaus mehr als es Bühnenwerke des gebürtigen Leipzigers gibt.
 

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