Es war ein seidig-kühler Hochsommerabend, frei von großer Hitze, zärtlich belichtet vom Alpenglühen, kühl. Fast stürmisch wird dieser sinkende Tag durchpulst von der optischen Unwetterwarnung. Und als die Schiffe Kurs nehmen zum Nordsteg oder zum Hauptsteg der Fraueninsel mit ihrem Kloster, dem unvergleichlich in den Himmel ragenden, durchaus bodenständigen und gerade dadurch unverwechselbaren Campanile, den Keramikwerkstätten, den Fischerhäusern und Räucherstuben, der karolingischen Torhalle, den einzigartigen Ausblicken zum Hochgebirge hin oder über das voralpine Hügelland, dem legendären Bauerngarten.
Die Sicht öffnet sich in Häuser und Hütten. Gespräche mit Kunsthandwerkern und Fischhändlern über den Gartenzaun hin handeln vom guten alten Gestern und vom schwierigen und unüberschaubaren Heute. Inmitten all dieser Charakteristika darf auf dem höchsten Punkt der Insel die Jahrhunderte alte Insel-Linde „in Würde sterben“. Da schmuckt sich das spätgotisch dominierte Münster ins wehrhafte Mauerwerk der Klosteranlage. Die dreischiffige – im Kern romanische – Kirche, wird durch den von ästhetisch hochwertig-schmiedeeisernen Grabkreuzen geprägten intimen Friedhof nach Norden abgeschirmt.
Nicht am Abend des 17. Juli 2012, dem Eröffnungsereignis der Herrenchiemsee Festspiele (erfunden von Ennoch zu Guttenberg und von ihm als Intendant geleitet). Denn da strömen Menschen „zum Konzert“. Viele Menschen. Der Abend ist schon lange ausverkauft. Menschen in festlicher Kleidung des Alpenvorlandes und unübersehbar Menschen aus der Metropole München oder aus der Großstadt Salzburg. Menschen auch aus anderen Sprachregionen Deutschlands und Europas drängen ins festlich erleuchtete Kirchenschiff – welches ansonsten, das Jahr über, eher einen düsteren, zu „Buß und Reu“ zwingenden, Anreiz vorgibt. Was die archaisch nebeneinander isolierten Einzelsitzplätze auf hölzernen Bänken in absolut antiergonomischer Ausprägung an aufrechter Haltung zusätzlich erzwingen.
Das freilich dient der Haltung. Und der Konzentration. Vor dem Altar bauen sie sich auf, die Mitglieder des Orchesters der KlangVerwaltung sowie der Kammerchor der KlangVerwaltung. Die (pausenlose) Darstellung von vier geistlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs steht an zur Eröffnung der Herrenchiemsee Festspiele. „O Ewigkeit, du Donnerwort“ steht als Motto über dem Abend, der sich integriert ins Gesamtthema „Die Musik der Worte“. Und was der größte (virtuelle) Opernkomponist der Musikgeschichte in hunderten von Kantaten keineswegs nur als Fingerübungen für die großen Passionen missverstanden wissen wollte, hatte die Dramaturgie des Abends fast auf Passionsdimension hochgefahren: Die genannte BWV-20 Kantate stand im Spannungsfeld von „Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen“ BWV 12, „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch“ BWV 86 und „Herr Gott, dich loben alle wir“ BWV 130.
Was sich an Textverdichtung durch Bachs Musik ergab in Chorsätzen der spirituellsten Intensität oder im instrumentalen Umgarnen der Gedanken durch Andreas Reiners virtuose und analytische und gefühlsbereite Solovioline, durch Anja Lechners wunderbar „swingendes“, das Fundament setzendes Solocello und durch die Stimme der unvergleichlichen Mezzosopranistin Olivia Vermeulen, die akustisch erlebbar machte und es bewies, dass eine Altstimme klar und glockenrein und wunderbar sein kann, das rechtfertigt die weiteste Reise.
Guttenberg ließ dem Auditorium einen Bach erstehen der bedeutenden geistigen Tiefe, der musikalischen Brisanz in durchaus und dennoch angemessen bescheidener kammermusikalischer Besetzung. Die kristalline Miriam Meyer, Sopran, der bewegende Tenor Daniel Johannsen und der markante Bass von Klaus Mertens trugen das ihre zu einem erkenntnisreichen Ereignis bei – dem bis zum 29. Juli noch weitere musikalische Denkwürdigkeiten in unvergleichlicher Landschaft folgen werden. Und das ist ein Aspekt, der dem Tiefenverständnis der Musik sehr zuträglich ist. Das hat sich im Chiemgau bei den jungen Menschen noch nicht herumgesprochen. Da sollten die intelligenten und musikalischen Macher dran arbeiten. Denn musikbegeisterte Jugend war an diesem Abend mit der Lupe nur zu erkunden... Und wie sagte ein Moderator des Bayerischen Rundfunks jüngst: „Leute, hört Bach-Kantaten. Das bringt Freude“. Wie wahr. Und Erkenntnisgewinn obendrein.