Bregenz – das ist ja längst das Total-Festival mit Seebühne, Festspielhaus, Werkraumbühne, Jugendprogramm, Kornmarkttheater, Seeforum für Text und Musik, Festspielfrühstücken mit Künstlern undundund - und 250.000 Besuchern, gerade auch für die mit begrenztem Geldbeutel für Kultur. Zum Abschluss staunte unser Kritiker Wolf-Dieter Peter noch in einer Tschaikowsky-Aufführung.
Es sind Szenen und Arien für die Superstars der Opernwelt in „Eugen Onegin“ – außer Acht lassend, dass Tschaikowsky dezidiert wollte, dass sein Musikdrama nicht im St. Petersburger Mariinsky- und auch nicht im Moskauer Bolschoi-Theater gespielt werde, bevor es 1879 mit Solisten des Konservatoriums am kleineren Maly-Theater uraufgeführt wurde: er wollte unbedingt junge Künstler, die Tatjanas realitätsvergessene erste Liebe, Onegins jungmännlich verfrühte Weltmann-Arroganz, Olga junges Drauflos-Lieben und Lenskis jungkünstlerisches Überschäumen in Liebe, Eifersucht und Duell-Tod eben selbstvergessener und damit künstlerisch überzeugender singend verkörpern würden als routiniert große Sängerinnen und Sänger; Tschaikowsky lässt ja Onegin am Ende nach jahrelangem Umherreisen im Alter von 26 Jahren verzweifeln, also waren alle am Beginn ihrer Verstrickung um die oder deutlich unter 20 Jahre alt. Genau das griff die Bregenzer Festspielintendantin Elisabeth Sobotka auf – und wählte das Werk für die Produktion des Bregenzer Opernstudios: fast alle jung, mit ein bisschen Bühnenerfahrung bereit, sich vorbehaltslos reinzustürzen…
Opernstudio heißt auch: kleines Budget für Ausstattung, beste Probenbedingungen (weil alle durchweg anwesend sind und nicht zwischendurch lukrativ woanders festiwallen…), genügend musikalische Proben auch mit dem Symphonieorchester Vorarlberg – nur eben kein Chor. Und genau da begannen die überzeugenden neuen Akzente der Bregenzer Dramaturgie und von Regisseur Jan Eßinger.
Die sonst kleine Rolle der Njanja, der Amme Filipjewna, wertete Eßinger zur engen, „ihre Tatjana“ lebenslang begleitenden Vertrauten auf – und sie hat nicht nur vorgelesen, Phantasie und Gefühle geweckt, sie hat ihr in der abgelegenen Provinz eben auch Lieder und Chöre vorgespielt: auf dem Kofferplattenspieler; von dem tönt knisternd der (zuvor mit dem Chor der Oper Perm aufgenommene) Gesang, während Dirigent Valentin Uryupin mit dem Orchester rauschfrei live begleitete – eine klanglich gelungene und dramaturgisch überzeugende Regie-Idee. Filipjewna steht Tatjana auch mehrfach wie ein gereiftes alter Ego gegenüber und ist auch im Palast des Fürsten Gremin um sie. Sie singt den für ihren eigenen und Tatjanas Lebensweg geltenden Satz „Gewöhnung gab der Himmel uns, sie ist Ersatz für alles Glück“ und spiegelt gleichsam bodenständig allen Überschwang der „Herrschaften“. All das war Ljuba Sokolova anvertraut, die auf der Bregenzer Seebühne schon als Azucena und Amneris sang – und da war ohne Getue realistisch reife Lebenserfahrung neben dem noch zarten, schwelgerisch süß verhuschten Mädchen Tatjana von Shira Patchornik. Sie ließ die Regie für ihre singulär große Briefszene wieder hinausfliehen in die Natur des Einheitsbühnenbilds von Nikolaus Webern, dorthin, wo sie Onegin erstmals begegnete – und trotz des Eindrucks eines verirrten Vögelchens in der Nacht gelang ihr die große Emphase – anrührend. Den anderen starken Eindruck hinterließ Alexey Neklyudov: sein Lenski war ein junges Mannsbild mit wuchtiger Bühnenerscheinung, dem man das eifersüchtig blinde Überschäumen abnahm, der über einen klangschönen Tenor verfügt - bis ins feine Piano seiner todesverschatteten Duell-Arie; er lag als Onegins Alptraum auch noch am vorderen Bühnenrand tot da, sprang dann noch einmal zu einer Umarmung auf, ehe Onegin sich aus seinen quälenden Erinnerungen zurück in die Realität löste.
Vokal überzeugend auch Bariton Ilya Kutyukhin in der Titelrolle, dem nur Ausstatter Webern einiges an Dandy-Wirkung nahm, indem er ihn durchweg im grauen Anzug auftreten ließ. Das von Igor Korostylevs Gremin-Bass bis in alle anderen Rollen überzeugende junge Ensemble wirkte auch so frei, weil es in der Muttersprache singen konnte. Einzige Einschränkung: Der im Permer Umfeld von Theodor Currentzis‘ Musica Aeterna doch wohl sensibel geschulte Dirigent Uryupin verwechselte zu oft russische Emphase mit Lautstärke. Dagegen war es vor allem Regisseur Jan Eßinger gelungen, ein vermeintliches „Werk für Stars“ so mit jugendlichem, aber differenziert gezeichnetem Sturm-und-Drang-Scheitern zu füllen, dass daraus ein Maßstab für künftige Aufführungen wurde. Zurecht Bravostürme am Ende.