In welcher Operette gibt es Zofen, die nicht flirten? „Märchen im Grand Hotel“ ist DIE Operette der Spielzeit 2019/20: Selbstreferentiell, multimedial und offen für verschiedene musikalische Arrangements. Das Staatstheater Meiningen zog bei der umjubelten Premiere alle Register zwischen Klischee, Boulevardtheater, feiner choreografischer Optimierung und wirkungsvoll transparentem Abraham-Sound.
Sie – in einem Hauch von rosa Frisiermantel! – wirbelt exaltiert um den gar nicht so keuschen Zimmerkellner, den sie Josef statt Albert nennt und der wie ihr seliger Hund Pablo die Nacht an ihrer Tür-Schwelle verbringen soll. „Heiraten kann ich dich nicht – es war ein schönes Märchen im Grand Hotel.“ Infantin Isabella, entmachtetes blaues Blut aus Spanatien im Exil, säuselt das nicht tränenselig. Sie wird laut, allerdings immer mit vollendeten Umgangsformen. Und hart. Es erschüttert sie das Anbiedern mit den niederen Ständen, deren erotisches Laissez-faire sie nicht dulden will. Schauplatz: Unter den Dächern von Cannes. Dort bedarf es einiger subtiler Klimm- und Schachzüge, bis die von persönlicher Finanzkrise gebeutelte Durchlaucht und ihr steinreicher Verehrer aus einer der besten Familien vereint werden könnten.
Die Anfechtungen durch den neuen Zeitgeist erreichen den allerengsten Kreis der Infantin: Hofdame Inez de la Ramirez flucht wie ein Kutscher und bewältigt Katastrophen in Allianz von Lebenserfahrung und Likör ( wunderbar: Cordula Rochler), Prinz Andreas Stephan (hohes Niveau ohne Format: Giulio Alvise Caselli) hat weder alte noch neue Werte und schon gar keine Ideen. Großfürst Paul (militärische Niete mit Sympathiebonus: Matthias Herold) erliegt als erster den Versuchungen der Medien, als man ihm den großen Stream-Auftritt mit 6000 Statisten verspricht.
Die – wo sonst? – von der Komischen Oper Berlin angefackelte Paul-Abraham-Welle wogt und brandet weit. Seit der halbszenischen Weihnachtsaufführung von 2017 dort spielt man das erste Werk, das der ungarische Komponist Paul Abraham im Wiener Theater in der Josefstadt nach seiner durch die Machtergreifung bedingten Emigration und den Berliner Sensationserfolgen herausbrachte, in Hannover, Mainz und Hamburg. Das Meininger Staatstheater folgte am Freitagabend mit enormem Publikumszuspruch. Ein Stück von Emigranten über Emigranten: Otto Preminger war der Regisseur der Uraufführung im März 1934. Der Mix aus Klischee, selbstreferentieller Ironie und einer Folge von Musiknummern, die neben der Haupthandlung immer wieder kleine intime Dramolette ausbreiten, kommt in der Meininger Ensemble-Union von Opern- und Musicalsängern mit Schauspielern und Chorsolisten, dazu kleiner Orchesterbesetzung mit wenigen Streichern, Banjo und viel Schlagwerk gut an.
Lerneffekt: Die Interieurs hochpreisiger Hotels haben sich in den letzten neunzig Jahren so gut wie nicht verändert. An Schlüssellöchern zu lauschen ist (fast) out, dafür gibt es überall Smartphones. Das Produktionsteam suchte also die Gegenwart und hat nichts einzuwenden, wenn Assoziationen an die Opulenz des frühen Farbfernsehens oder das Filmlustspiel der 1930er aufkommen. Diese Mischung macht's.
Warum wirkte Rombergs Broadway-Operette „Neumond“ beim Leipziger Operettenworkshop so wienerisch melodienselig (siehe Bericht von Roland H. Dippel in nmz online) und warum Abrahams 1935 uraufgeführte Operette jetzt so auffrisiert musicalhaft? Diese Fragen stellen sich Roland Hüve, sein die Post-Jugendstil-Interieurs stellenweise mit Indie-Kitsch verkleisternder Bühnenbildner Christian Rinke und der gerne im textilen Luxus-Segment vagierende Couturier Siegfried E. Mayer nicht. Dafür gab es straffe Kontraste und eine Transformation in die mediale Gegenwart. Die Story, welche Lehárs Erfolgslibrettisten Alfred Grünwald und Fritz Löhner-Beda, später in umgekommen im Konzentrationslager Buchenwald, nach Alfred Savoir einrichteten, erweist sich als hellsichtig. Soviel musste also gar nicht an dieser Lustspieloperette aktualisiert werden, in der sich die Movie-Gesellschaft Makintosh mit einer Reality-Doku-Romantic-Soap wieder auf die Erfolgssprünge hilft. Filmboss-Tochter Marylou macht sich mit einem Team auf nach Cannes und filmt echte Menschen im Hotel. Sie und ihre Crew halten Smartphone, Mikro und Kameras dort ins Geschehen, wo sie Alkovengeheimnisse und hammerharte Enthüllungen wittern. Doch zum Happyend, das Abraham hier in mindestens vier variierten Reprisen beschwört, kommt es erst im Fernsehstudio. Da stehen die Adeligen neben der moderierenden Marylou und liefern sich mit Haar und Outfit dem Show-Speech-Mainstream aus. Das ist die Schlusspointe von Hüves Einrichtung. Das letzte Familienerbstück, eine hier auch musikalisch glitzernde Perlenkette, erweist sich als Fälschung – echt sind dagegen jene 20.000 Euro, die der als Zimmerkellner-Niete auftretende Albert der Verehrtesten Isabella ins Portemonnaie zaubert.
Die Meininger Produktion bricht mit so ziemlich allen Vorurteilen gegen Abraham. Trotz der stellenweise recht groben Pointen gibt es geschliffenen Konversationsduelle und Gefühle in feiner Bewegung. Hüve und die jeden Auftritt schleifende Choreografin Marie-Christin Zeisset fordern die verschiedenen Figurentypen mit Mitteln der jeweils passenden Genres. Der Prolog in den Makintosh-Büros gerät demgemäß kabarettisch und als Marylou, die in jeder noch so verfahrenen Situation Pioniergeist zeigt, setzt Nathalie Parsa die konditionierte Motorik der souveränen Musical-Allrounderin frei. Jonas Böhm als Albert gibt erst recht im Seide-Pyjama den besonderen Typ zwischen Krawattentenor und Chansonier. Für Knallchargen ist die Meininger Inszenierung zu nobel, für Adelsroman-Klischees zu intelligent, für billige Komödiantik zu ambitioniert.
Auf diesem Kurs befindet sich auch die musikalische Leistung, die aus den jazzigen Klangballungen und Abrahams an den Handlungssituationen vorbei zischenden Feinheiten intelligente Konversationsmelodik zaubert. Harish Shankar, designierter GMD des Philharmonischen Orchesters Erfurt, sucht mit den, inklusive Banjo und Schlaginstrumenten, maximal zwanzig Musikern aus der Meininger Hofkapelle lustvolle Vielstimmigkeit. Er und die Kostüme von Siegfried E. Mayer widersetzen sich vergröbernden Genrezwängen und greifen erst beim finalen Show-Auftritt in die Vollen. Carolina Krogius ist Diva und iberische Infantin, die Bigotterie als standesgemäße Noblesse verinnerlicht hat. Ein feiner Wurf des typ- und pointensicheren Ensembles also: Ohne die spezifischen Anforderungen einer Abraham-Operette zu sabotieren, enthält das Meininger „Märchen im Grand Hotel“ multimediale, unsentimentale Morbidezza, welche erst zum Finale in die brachiale Explosion mündet.
Vorstellungen am So 26.01., 19:30 – Sa 08.02., 19:30 – Mi 12.02., 19:30 – So 23.02., 15:00 – - Sa 07.03., 19:30 – So 22.03., 15:00 – So 12.04., 19:00 – Fr 08.05., 19:30 – Sa 13.06., 19:30 – Di 30.06., 14:30 – Sa 04.07., 19:30 – Sa 11.07., 19:30
Musikalische Leitung: Peter Leipold, Harish Shankar – Regie: Roland Hüve – Bühne: Christian Rinke – Kostüme: Siegfried E. Mayer – Choreografie: Marie-Christin Zeisset – Dramaturgie: Corinna Jarosch – Isabella: Anne Ellersiek / Carolina Krogius – Großfürst: Matthias Herold – Prinz: Giulio Alvise Caselli – Gräfin: Sonja Freitag / Cordula Rochner- Präsident Chamoix: Stan Meus – Matard, Hoteldirektor: Jan Kämmerer – Albert: Jonas Böhm – Sam Macinthosh: Peter Liebaug – Marylou: Nathalie Parsa – Barry: Pedro Arroyo / Yoingkyu Suh – Dryser: Thomas Lüllig – Bob: Ingo Mäder / Matthias Richter – Jack: Stefan Köllner / Lars Kretzer, Meininger Hofkapelle