Da bedarf es schon des Zusammenspiels eines Opernintendanten, der von Hause aus ein Schauspielmann ist und eines Schauspielintendanten, der erklärtermaßen besonders offen ist für „Interdisziplinarität“: Jürgen Flimm und Thomas Ostermeier ermöglichten für das Festival „Infektion!“ im Vorjahr eine Produktion, die anknüpft an die alten Theatertraditionen, bei denen der Schritt zwischen Oper und Schauspiel oft unmerklich war, als die Primadonna der Oper die Donna Seconda in Schauspielaufführungen war und umgekehrt.
Noch im zwanzigsten Jahrhundert implizierte Max Reinhardt in seine Inszenierungen bekannte und neu komponierte Musiken, die von einem großen Orchester nicht nur als Ouvertüre und Zwischenaktmusiken dargeboten wurden. Gesangsszenen, auch Chöre waren durchaus gebräuchlich, wie sie etwa an Ibsen/Griegs „Peer Gynt“ oder an Ibsens „Fest auf Solhaug“ – in den Vertonungen durch Hugo Wolf und Hans Pfitzner – bisweilen noch heute zu erleben sind.
Die Primadonna in "For the disconnected Child" stammt aus dem Schauspiel: die Schweizerin Ursula Lardi, die auch im vergangenen „Infektion!“-Festival in Sciarrinos „Lohengrin“ an der Staatsoper brillierte, verkörpert die schwer an einen neuen Partner zu vermittelnde über vierzigjährige Assessment-Trainerin Tatjana Winter, geschiedene Mutter zweier Kinder. Vergeblich sucht sie einen Partner, der ihre Vorliebe für die Oper teilt. Der bindungsphobische Onegin der Oper steht dabei für all jene Männer, mit denen sie zu tun hat. Die Ironie des Schicksals will es, dass sie in der Partnervermittlungsagentur auf einen Coach (Franz Hartwig) trifft, der sie mit exakt denselben Methoden drangsaliert, die sie vordem angewandt hatte, als dieser Mann sich bei ihr im Assessment-Center um eine Anstellung beworben hatte – und von ihr abgelehnt worden war.
Per Skype kommuniziert sie mit ihrer Mutter, der Opernsängerin Winter (Borjana Mateewa), die ein Leben lang dafür bezahlt wird, als Cover in internationalen Opernproduktionen nicht zum Einsatz zu kommen und doch so gerne den einen Satz der Amme in Tschaikowskis Oper auch auf der Bühne singen würde. Technische Übertragungsprobleme, Schwerverständlichkeit und Unterbrechungen der Skype-Verbindung sind symptomatisch für die kommunikativen Störungen der globalisierten Welt.
Bei Ursina Lardi klingen Schluchzer und unterdrücktes Weinen wie Gesänge neuer Musik. Schuberts „Fremd bin ich eingezogen“ aus der „Winterreise“ begleitet sie perfekt am Flügel. Zum Gesang des Baritons Gyula Orendt mischt sich dann eine Geräuschebene live über Mikrofon verstärkter, berstender Gegenstände.
Regisseur und Choreograph Falk Richter hat für sein eigenes Drama über die Vereinzelung in unserer Welt Ausschnitte aus Pjotr Tschaikowskis „Eugen Onegin“ mit neuen Kompositionen von Malte Beckenbach, Achim Bornhoeft, Oliver Frick, Helgi Hrafn Jónsson, Jan Kopp, Jörg Mainka und Oliver Prechtl kombiniert.
Die Softsound-Stimmung der zur E-Gitarre gesungenen Lieder des Counters gleitet über in orchestrale depressive Momente á la Alban Bergs „Wozzeck“, oder das sich beschleunigende „Onegin“-Vorspiel in Kammerbesetzung wird frei weiterentwickelt und wie selbstverständlich in eine heutige E-Musiksprache überführt.
Optisch und dramaturgisch bestimmend ist die Idee der winterlichen Kälte, in den projizierten Schneeflocken auf der Rückwand des durch Treppen mit einander verbundenen zweigeschossigen Bühnenraums von Katrin Hoffmann (Video: Chris Kondek).
Neben sensitiven Orchesterklängen wird auch mal ein elektronisch vorproduzierter basslastiger Geräuschteppich integriert. Zunächst sitzt die Orchesterformation aus Musikern der Staatskapelle Berlin und der zugehörigen Orchesterakademie unter der souveränen musikalischen Leitung von Wolfram-Maria Märtig zentral auf der Bühne – in deren Mitte auch zwei Schauspieler an 1. Violine und Violoncello, Franz Hartwig und Louise Wolfram. Zwischen ihnen entwickelt sich dann ein Dialog über die Formen von „Nähe“. Die Aktion der Schauspieler mit ihren Instrumenten ist durchaus glaubhaft; aber de facto spielt Louise Wolfram später nur ein Triangel und zertrümmert einen Stahlrohrstuhl als Geräusch-Ostinato.
Faszinierend in ihrer Brutalität und ihrem Liebesverlangen das Tänzerpaar Jorjjn Friesendorp und Franz Rogowski, sowie Andreas Merk als vereinzelter, akrobatischer Tänzer.
Dominante Eindrücke liefert Komponist Helgi Hrafn Jónsson als Sänger an der Elektro-Gitarre, Posaune und am Klavier.Von Maraike Schröter hat Nadine Yeghiyan die Sopran-Partie des zweieinhalbstündigen Abends übernommen. Bravorufe am Ende der Wiederaufnahme für Schauspieler, Sänger, Tänzer und die 13 Instrumentalisten.
Nur wenige Zuschauer verließen für die sich anschließende Laudatio den Saal: mit dem 1992 von der Berliner Morgenpost initiierten Friedrich-Luft-Preis wurde die Uraufführungsproduktion des Autorregisseurs Falk Richter als „beste Berliner und Potsdamer Aufführung des Jahres 2013“ ausgezeichnet, „als ein beeindruckendes Kaleidoskop, eine virtuose Verschmelzung verschiedener Genres“.
Auf die kunstvolle Metarezension der Jury, ausformuliert von der Dichterin Lucy Fricke, verlas Ursina Lardi die nicht weniger emphatische Antwort des Regisseurs, der derzeit in Melbourne sein neues Stück inszeniert – später soll es auch an der Schaubühne gezeigt werden.
- Weitere Aufführungen: 20., 21. 9., 11. und 12. 10. 2014.