Derzeit scheinen die Menschen in Wolfgang Amadeus Mozarts und Lorenzo da Pontes opera buffa „Die Hochzeit des Figaro“ und ihre Triebhaftigkeiten wichtiger als die politische Dimension. Am Theater Erfurt kommen in der Inszenierung von Martina Veh neben dem erotischen Spaß auch dessen Grenzen ins Bild. Musikalisch gerät das unter Samuel Bächli als blitzblankes Bekenntnis zur herkömmlichen Aufführungspraxis.
Mit Beginn des vierten Aufzugs funktioniert in der Neuproduktion von Mozarts Opera buffa nichts mehr. Der Weg ins Chaos ist aber ein anderer, als wenn hinter der Trieb- und Flirtvermischung des feudalen Stands und seiner Bediensteten die Französische Revolution ihre blutige Trikolore schwingt. Das merkt man schon am schroffen Tonarten-Wechsel nach dem Fandango und dem Brautzug, dem hier die oft gestrichene Eselhaut-Arie Basilios (Jörg Rathmann) folgt. Gleich wird die kleine Barbarina (Sarah Hayashi) in einer Abstellkammer rüde ihrer Unschuld beraubt werden. Zu den Schlussakkorden umschließt ein rauchender Ofen die beiden Paare Figaro mit Susanna und den Graf mit seiner ihm an Frivolität fast ebenbürtigen Angetrauten.
Erotik und Anmache sind das Wesen aller Dinge in diesem von Momme Hinrichs fetzig überzeichneten Rokoko mit Turmfrisuren, goldglitzernden Knopfleisten und angeschmodderten Wänden. Das ist durch die Video-Virtualisierung (Torge Møller) gleichzeitig ‚echter‘ Klassizismus – oder Discounter-Vintage mit hinter die Wände schiebbaren Betten und jederzeit von Nostalgie auf Neu umschaltbaren Interieurs.
In diesen will sich Martina Veh nicht für eine von zwei Handlungszeiten – ein aufgeputschtes Rokoko oder die Gegenwart – entscheiden. Am Theater Erfurt hatte sie die Uraufführung von David Volker Kirchners „Gutenberg“ inszeniert. Jetzt erscheint „Figaro“ im zweiten Anlauf. Die Proben mussten im März 2020 beim ersten Lockdown in jenem sensiblen Stadium unterbrochen werden, als das Ensemble sich gerade in Mozarts und da Pontes der Komödie von Beaumarchais folgenden Quirligkeiten orientiert hatte.
Die Unterbrechung kommt der Produktion jetzt mit ihre Bipolarität von Burleske und Bösartigkeit zugute. Einerseits forciert Veh komödiantischen Sportsgeist. Dann gibt es neben den großen und kleinen Lügen ambivalente Momente, in denen zwischen Flirt und Lügen fast alles möglich scheint. Aber man sieht auch selten so deutlich, wie schnell an diesem „tollen Tag“ echte und Zweck-Allianzen in Sekundenschnelle brüchig werden. Prüderie ist in diesem Ambiente eine den Figuren unbekannte Gesinnung: Hier erregt sich jede Frau lieber am stark ausgeprägten Priapismus des Pagen Cherubino, als dass sie sich aufregt. Susanna erwidert, das geht weit über die unterstellte Frivolität von da Pontes Textbuch hinaus, die Küsse des Grafen. Der zerrt sie aus einem ihrer Duette mit dem Verlobten Figaro hinter eine Tür und ihr scheint das keineswegs so unangenehm zu sein, wie sie beteuert. Manchmal ermutigt Veh zu aus Datingshows des Musters „Neureich sucht williges Statussymbol“ bekannten Lässigkeiten. Tragik und vorschnelle Schatten einer schwarzen Zukunft gibt es also nicht. Trotzdem sieht man immer die Gründe, warum jemand aus diesem Spaßsystem und seinen pekuniären Hintergründen ausbricht – sei es aus Enttäuschung, Melancholie oder wegen physischer Verletzungen beim Liebesspiel. Deshalb ist es kein Zufall, dass gerade die sonst oft klischeehaft gezeichneten Eltern Figaros – Katja Bildt als Marcellina und mit etwas Abstand Kakhaber Shavidze als Bartolo – an Bedeutung gewinnen. Situationen sind wichtiger als psychologische Stringenz.
Auch die musikalische Seite akzentuiert das. Bei den Rezitativen wurde einiges gestrichen. Was erklingt, hat deklamatorisches Gewicht und viel Leichtsinn. Die Wechsel von Klavier und Cembalo meinen den Anbruch einer neuen Zeit. Zur Bühne und Projektionen wie dem Blättermeer im nächtlichen Park passt der blitzblanke Sound des Philharmonischen Orchesters Erfurt. Samuel Bächli ist ein Meister der herkömmlichen Aufführungspraxis. Das muss gegenüber den historisch informierten Strohfeuer-Erkenntnissen kein Nachteil sein. Bei diesem Drive bekommen die Sänger immer das, was gut für sie ist und was das szenische Spiel ankurbelt oder abfedert. Diese Geschliffenheit bewegt sich auf gleicher Spur mit der Inszenierung und denkt das fortschreitende 18. Jahrhundert eher neu als dass man es mit dokumentarischer Verlässlichkeit rekonstruiert. Der von Roberto Secilla einstudierte Chor, der die für das gräfliche Finanzspektrum wohl viel zu große Dienerschar gibt, erledigt seine kleinen Aufgaben bestens. Florence Losseau ist ein Bilderbuch-Page, der im derzeit besonders deutlich postulierten Geschlechterpluralismus erst recht seine Fans haben wird. Selten sind die beiden Baritone von Graf Almaviva (Siyabulela Ntlale) und Figaro (Máté Sólyom-Nagy), die Soprane von Susanna (Daniela Gerstenmeyer), der am meisten umworbenen Partie in Mozarts erotischer Schlossgeschichte, und Gräfin Almaviva (Elbenita Kajtazi) so ähnlich wie hier. Die Verwechslungen bei den Übergriffigkeiten im Dunklen sind also voll entschuldbar. Gesungen wird von den Männern mit markanter, von den Frauen mit berückender, aber nicht zu lieblicher Geschmeidigkeit. „Figaro“ erhält einen motorischen Funktionalismus, der mindestens ebenso viel aussagt wie grüblerisches Psychologisieren. Dieser verrät weitaus mehr über das Menschenbild kurz vor der Pandemie als über Mozart.
- Theater Erfurt, Premiere: 27.11.2021 – wieder am 10.12. | 18.12. | 22.12.2021 | 07.01. | 16.01. | 23.01.2022 (besuchte Vorstellung: Generalprobe 25.11.2021)