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Foto: Xiomara Bender
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Müll-Apokalypse ohne Grapscher: „Rusalka“ bei den Tiroler Festspielen

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Werden die Tiroler Festspiele eine Filiale der Oper Frankfurt? Diese Frage vernimmt man derzeit häufiger – nicht nur im Inntal. Auf alle Fälle beginnt Bernd Loebe in Erl einen neuen Kurs mit anderen szenischen Handschriften als Gustav Kuhn vor ihm. Die Neuproduktion von Antonín Dvořáks Märchenoper „Rusalka“ (uraufgeführt in Prag 1901) setzt eine regional affine Dramaturgie im für Erl neuen Modul 'spätromantische Märchenoper', im Sommer 2020 folgen Humperdincks „Königskinder“. Donizettis „Liebestrank“ steht für die Fortsetzung des in Erl neben Wagner besonders geschätzten Belcanto-Repertoires. „Rusalka“ wurde zu einem packenden und explosiv umjubelten Gesamtereignis.

Ganz geheuer ist es noch nicht. Da tritt bei den Tiroler Festspielen nach dem brüsken Ende der Ära Gustav Kuhn für dessen künstlerisches Erbe ein Intendant an, der sein Haus seit Jahren zum Brennpunkt des internationalen Musiktheaters macht. Dort begegnen sich gestandene Sängerdarsteller, hochbegabtes Jungvolk und viele Nachdenkliche der Szene, in der Erfolgskette dort ist auch mal ein Flop statthaft. Mit seiner ersten verantworteten Produktion im Festspielhaus Erl enthebelt Bernd Loebe jetzt vorerst die Befürchtung, dass er die Tiroler Festspiele mit inzwischen fast ganzjährigem Betrieb nur als Sekundärplatz für abgespielte Produktionen der von ihm geleiteten Oper Frankfurt und als Parklücke für Frankfurter Personal betrachtet. Gewiss gibt es mit der zweiten Erler Winterpremiere, Donizettis „Liebestrank“, und im Sommer 2020 mit dem raren, weil exorbitant schwierigem Belcanto-Juwel „Bianca e Falliero“ Übernahmen aus Frankfurt, aber das ist angesichts der zu erwartenden Leistungen legitim. Mit dieser „Rusalka“ (wie schon im Sommer 2019 bei Braunfels‘ „Die Vögel“) wird der szenische Anspruch mit einem qualitativen Quantensprung nach oben erkennbar. Einige Besucher, die bei Kuhn ohne Murren 250 Minuten „Götterdämmerung“ als kostümiertes Konzert goutierten, empfanden „Rusalka“ mit 160 Minuten als sehr lang: Sie hatten recht, aber das Gesamtpaket stimmte in den drei hochdramatischen und klangsinnlich überdehnten Vorstellungen.

Loebe hätte es sich einfach machen können und die bejubelte, im Museum spielende Frankfurter Inszenierung von Jim Lucassen als sichere Bank nach Erl wuchten können. Das tat er aber nicht. Dafür machte die Regisseurin Florentine Klepper aus der Nixen-Story nach Andersens „Die kleine Meerjungfrau“ die erschütternde Apokalypse für eine Region, in der sich ökologisch verantwortungsbewusste Landwirtschaft und Ressourcen-Verschleiß im Dienst am Touristen, bzw. Kommerz und Esoterik verschwistern: Die Nixe Rusalka entflieht – schuld daran ist ein Modemagazin – ihrem Urzustand, in dem Raum und Zeit verfließen. Aber sie scheitert an der irdischen Liebe und vor allem an einer trendlüsternen Freizeit-Gesellschaft, die modische Park-Architekturen ins Alpenparadies meißelt. Schließlich vegetiert Rusalka im Plastikmüll: Symbol der Trivialisierung ist ein Arielle-Fischschwanz aus den Disney-Studios, in den sie sich, entfremdet von Menschsein und Schöpfung, hineinquält. Mit einer perfekt ausgeführten Tanz-Einlage und einer Steinigung durch Tennisbälle katapultieren die properen Hochzeitsgäste das kühle, aber un-coole Wasserwesen aus ihrem chicen Kreis. Der Chor unter Leitung von Olga Yanum schafft das verspielt und klangprächtig. Die bestechend aussagestarken Kostüme von Anna Sofia Tuma, die klare Zeichenhaftigkeit der Bühne von Martina Segna, Pascale Hombachs dramaturgisch legitimierte Videos und die Regie sind mit der schon radikalen musikalischen Höchstleistung verzahnt. Die ultimative Aktualität aber ist Zufall: Rusalkas Lebenselement Wasser sinkt ab, wird in Plastikflaschen rationiert und diese am Ende zerknüllt, während Bayern 5 das reale Absinken des Grundwasserspiegels meldet. Aber Florentine Klepper vermeidet simplifizierende Parteinahme. Zwar ist der Tod des Märchenprinzen unvermeidlich, doch befreit die Regisseurin diesen von dem der Partie anhaftenden Image des Nixen- und Natur-Zerstörers. Der Moment, in dem Rusalka den Prinzen zärtlich zu Tode küsst und danach in den Resten seines Pools aufbahrt, wird zur kleinen, schaudern machenden Ewigkeit.

Ein langer Abend mit Suchtfaktor: Alexander Prior riskiert mit dem dieser Herausforderung in jeder Sekunde gewachsenen Orchester der Tiroler Festspiele Erl so einiges. Der erst 26-jährige Brite weiß allerdings genau, wie viel Kondition und wachsame Transparenz er den Musikern abverlangen kann. Er nähert sich der musikalisch oft unterbelichteten Partitur von Antonín Dvořáks beliebtester Oper nicht aus „Moldau“-, sondern „Walküre“-Perspektive. Das heißt aber nicht, dass er den Wagner in Dvořák sucht. Vielmehr entdeckt er mit ausladenden, aber nie dicken Extremen die Verdichtung des Leichten, macht er sonst Verborgenes hörbar und erzielt die unwiderstehliche Dosierung von harmonischem Gewicht und großem Melos. Durch diese Entdeckung der Langsamkeit hat der Abend eine bohrende und verzehrende Spannung. Ein Wagnis auf Messers Schneide: Aber die szenische Intensität hält der extremen Lesart stand und gewinnt durch diese. Am Ende brandet explosiver Jubel für den im Wortsinn atemberaubenden Opernabend auf.

Warum sollte Erl auf andernorts bewährte Bestleistungen verzichten? Nach ihren Frankfurter „Rusalka“-Auftritten legen hier Karen Vuong in der Titelpartie und der in seinem Heimatland Österreich bisher nur marginal zur Kenntnis genommene Tenor Gerard Schneider noch einmal ordentlich zu. Karen Vuong findet nach ihrem mit extra-terrestrischen Edelschimmer gesungenen „Lied an den Mond“ für jedes der vielen Solo packende Schatten- und Blütentöne, bis zum letzten zerbrechenden Arioso. Gerard Schneider gibt dem Prinzen einen unwiderstehlich italienischen Anstrich und nimmt auch alle unbequemen Höhen, bei denen seine Kollegen kneifen. Beinahe kommt es zwischen der fremden Fürstin und dem Prinzen, der sich nur widerwillig an die Balz macht, zum Sängerkrieg. Aber für ein vormodernes Kräftemessen sind Dshamilja Kaiser und er zu intelligent. Florentine Klepper beweist ihre Sensibilität für das Textbuch Jaroslav Kvapils, weil es ihr um gendernormatives Leid und eine von Allen zerstörte Welt geht, nicht aber um plakativ ausgestellten Missbrauch: Also ist der Wassermann kein Grapscher, sondern ein auch vokal imponierender Intellektueller (Thomas Faulkner). Mit brennend sinnlichem Mezzo sucht die junge Hexe Ježibaba (Judita Nagyová), eine attraktive Frustrierte, im Müll nach der allerletzten Zigarette. Sogar alle kleineren Partien haben überdurchschnittliches Format: Steven LaBrie (Heger/Jäger), Corinna Scheurle (der Küchenjunge als androgynes Tennis-Bunny), und die Waldelfen von Alyson Rosales, Julia Dawson, Kelsey Lauritano. Ein starker Direktionseinstieg mit einer für die nächsten Produktionen mutig hochgeschraubten Messlatte.

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