Stefan Pieper berichtet von dem internationalen Kongress „Musique, mémoire et citoyenneté européenne“ und dem anschließenden politischen Konzert von Amaury du Closel und dem Orchestre Les Métamorphoses mit Werken von Hanns Eisler, Stefan Wolpe, Emil Frantisek Burian, Luciano Berio und Amaury du Closel im Arnold Schönberg Center Wien.
Für Amaury du Closel gibt es keine Grenze zwischen Musik und Politik. Auch in Arnold Schönberg sieht der in Wien lebende Franzose einen dezidiert politischen Komponisten. Entsprechend kam das Wiener Arnold Schönberg Center als Diskursort für einen Kongress und ein „politisches Konzert“ auf Initiative des Forums „Erweckte Stimmen“ wie gerufen. Teilnehmende aus fünf europäischen Ländern nahmen das Spannungsfeld „Musik und Politik“ aus gleich mehreren Richtungen ins Visier. Wie wirkt Musik als Motor für gesellschaftliche Emanzipationsbewegungen? Dario Martinelli lenkte den Blick auf jene „Singing Revolution“ im Baltikum und führte aus, wie die Menschen Litauens neue Identität und damit starkes emanzipatorisches Potenzial sowohl aus gewachsenen Traditionen, aber auch aus zeitgenössischen Kulturformen wie Rockmusik und Fluxus-Happenings schöpften. Fazit: Kultur wirkt wie ein weicher Faktor, damit sich im Idealfall ein David erfolgreich gegen den Goliath einer Fremdherrschaft behaupten kann. Philippe Olivier aus Berlin bemühte den biografischen Blickwinkel, wenn er die Vita des Dirigenten und Komponisten Otto Klemperer in Bezug zum wachsenden Antisemitismus in Europa stellte. Eine Erkenntnis ergibt sich aus all diesen Betrachtungen: „Komponisten sind immer wieder als Kronzeugen eines europäischen Denkens in Erscheinung getreten.“
Vieles geriet in Vergessenheit
Wie wird das Musikleben durch politische Zeitumstände beeinflusst? Was gibt es hier aufzuarbeiten, wo viele Komponisten und deren Lebenswerk durch den Lauf der Geschichte völlig in der Versenkung verschwunden sind? Dass der ganze musikalische Fortschrittsgeist der 1920er Jahre durch die Nazi-Kulturbarbarei im Keim erstickt wurde, ist eine Sache. Die andere ist, dass viele hoffnungsvolle musikalische Entwicklungen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert nach den 1950er Jahren nicht mehr auf die Beine kamen, als die Nachkriegsavantgarde zum alles beherrschenden Dogma wurde. Gerold W. Gruber vom Wiener exil.arte Zentrum lenkte den Blick auf das extraordinäre Gesamtwerk des Prager Komponisten Hans Winterberg – übrigens der einzige Überlebende aus dem Kreis der „Theresienstädter Komponisten“ um Viktor Ullmann und Pavel Haas. Zwei rare Kammermusik-Aufnahmen, welche aufgrund einiger Autographe möglich wurden, offenbaren dem Publikum im Arnold-Schönberg-Center die Ausdruckswucht dieser Musik, welche stilistisch der mittleren Moderne im 20. Jahrhundert zuzuordnen ist. Vielleicht erwächst aus diesem Kongress ja eine sinnvolle Kooperation für eine Erst-Edition dieser außergewöhnlichen Musik. Frank Harders-Wuthenau vom Verlag Boosey and Hawkes war schließlich auch zu diesem Kongress eingeladen worden. Dieser hatte sich in seinem Referat dem Komponisten Szymon Laks angenommen. Abgesehen von seinen richtungsweisenden Publikationen über die Instrumentalisierung von Musik in Nazi-Konzentrationslagern, ist dessen immenses kompositorisches Schaffen ein ebenso unentdecktes Terrain. Wladimir Putin möchte die ukrainische Kultur aus dem Bewusstsein tilgen. Erreicht hat er durch seinen Angriffskrieg genau das Gegenteil: Seit Ende Februar steht die Ukraine wie nie zuvor als eigenständiger, selbstbewusster Kulturraum im Licht der Weltöffentlichkeit. Grund genug für den Gastgeber Amaury du Closel, über das vielfältige Musikleben, welches sich in den Kulturmetropolen wie Lemberg und Kiew aus vielen Einflusssphären nährt, aus einer gesamteuropäischen Perspektive heraus zu referieren.
Stachel im Fleisch
Nach so viel Diskursmasse hat dann endlich die Musik das Wort. Der Komponist und Dirigent Amaury du Closel genießt den Luxus eines „eigenen“ Spezialensembles, um sein idealistisches Anliegen zu verwirklichen. Vorrangig geht es hier um Musik, die im üblichen Konzertbetrieb eher einen Orchideenstatus fristet – entsprechend rechtfertigte allein die Aussicht, das für diesen Abend konzipierte Repertoire einmal live im Konzert zu erleben, die Anreise nach Wien.
Mit Herzblut und Drive musiziert das Ensemble mehrere Kantaten von Hanns Eisler, die in ihrer mitreißenden Signalhaftigkeit auch heute noch wie eine „Ur-Quelle“ für politische Musik anmuten. So klingt es zumindest, wenn Amaury du Closels Kammerensemble aufspielt und man sich fragt, warum diese klingenden Appelle gegen Faschismus und Kapitalismus nicht viel häufiger zu hören sind. Hier und auch in Stefan Wolpes – programmatisch absolut auf der Höhe der Zeit wirkendes – „Dekret an die Armee der Künstler“ stach die Sopranistin Magali Paliès durch ihre dramatische vokale Brillanz heraus. Eine erst kürzlich uraufgeführte Eigenkomposition von Amaury du Closel namens „Stolpersteine“ emanzipiert sich von jeder naheliegenden „programm-musikalischen“ Einengung. Eben, damit dieses Ensemble umso mehr seine ganze klangliche und emotionale Bandbreite auskosten kann. Eine Nähe zum Jazz ist ja schon bei Eislers Kompositionen mit ihren ausgiebigen Parts für Saxofon, Trompete und Schlagzeug gegeben. Noch mehr davon offenbarte Emil Frantisek Burians „Suite Américaine“, wo der Reiz gerade im augenzwinkernden Kokettieren mit Jazzidiomen liegt. Nicht minder politisch konnotiert ist Luciano Berios Klangstück „O King“, welches die Ermordung Marthin Luther Kings kommentieren will – mit einem pochenden wiederkehrenden Impuls im Zentrum, der wie ein imaginärer Stachel im Fleisch daherkam.
Das Erweckte-Stimmen-Forum Wien
Das Erweckte-Stimmen-Forum Wien (ESFW) wurde im Oktober 2015 als eigenständige Kulturinstitution unter dem Namen Erstickte-Stimmen-Forum Wien gegründet. Das Forum hat das Ziel, Komponisten und ihre Werke, die vom Nationalsozialismus und anderen totalitären europäischen Regimes verfemt wurden, zu fördern und zu verbreiten. Im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine fordert die Arbeit des Forums dazu aus, angesichts der historischen Ereignisse über die politischen, humanitären und kulturellen Folgen nachzudenken.