Das Schleswig Holstein Musik Festival oder kurz SHMF hat nach zweijährigen Corona-Zwängen endlich ein Eröffnungskonzert in normaler Form hinter sich, traditionell wieder in Lübecks Musik- und Kongresshalle. Die trägt seit fast 30 Jahren das aus ihrem langen Namen gebildete Kürzel, ist einfach nur die MuK, war es auch in den letzten beiden Jahren, in denen sie als größte Impfhalle im Lande diente.
Der Eröffnung ging wie immer am Vortag ein Konzert mit dem gleichen Programm voraus, ehe am 3. Juli das eigentliche Eröffnungszeremoniell stattfand, selbstverständlich mit der üblichen Prominenz aus Kultur und Politik, dem NDR Elbphilharmonie Orchester und einem namhaften Solisten. Der Norden steht auf Tradition. Er weiß auch, was dieses große musikalische Sommerereignisses in Europa bedeutet. So wurde das Konzert angemessen live im Rundfunk bei NDR Kultur und im Fernsehen von 3sat übertragen. Johannes Brahms 2. Klavierkonzert war zu hören, von Igor Levit interpretiert. Dem folgte Paul Hindemiths Sinfonie „Die Harmonie der Welt“, eine besondere Aufgabe für das Ensemble in Hamburgs Repräsentationsbau. Es wurde von seinem Chef Alan Gilbert geleitet.
Reden
Die oben erwähnte Elite aus Kultur und Politik (oder ist die Nennfolge aus hierarchischen Gründen zu ändern?) versammelt sich zu Festivalbeginn gern im historischen Lübeck. Ausgleichende Tradition ist, dass das Abschlusskonzert dann in Kiel erklingt, nur in diesem und in ein paar Folgejahren nicht. Dort ist der Konzertsaal akustisch und technisch ungenügend geworden. Hat man in der Landeshauptstadt doch etwas nach Lübeck geschaut, als man das gleiche Architekturbüro beauftragte, das Lübecks MuK erbaute?
In diesem Jahr war Ministerpräsident Daniel Günther, der zugleich Vorsitzender des SHMF-Kuratoriums ist, für die Begrüßung vorgesehen. Es sei ihm nichts unterstellt, er verweigerte sich ohne gewichtigen Grund. Darauf könnte der kommen, der um die heimliche Rivalität zwischen der Landeshaupt- und Regierungsstadt Kiel und der ehemals Freien und Hansestadt Lübeck weiß. Sie schlägt sich deutlich in der Kultur nieder, auch in ihrer finanziellen Förderung. In diesem Jahr, in dem zum 37sten Male das Festival sich jährt, musste Günther eine Vertreterin schicken. Es war Sabine Sütterlin-Waack, seine Ministerin für Inneres, noch nicht einmal eine Woche im Amt. Man muss ihr wohl eigentlich danken, dass sie nur kurz redete. Die Kürze ihrer Ausführung allerdings war für ihren nachfolgenden Redner ein Problem, weil nun er den Großteil der insgesamt 15 Minuten zu füllen hatte, bevor das eigentliche Anliegen des Abends, das Eröffnungskonzert, beginnen konnte. Das durfte nämlich erst anfangen, nachdem 3sat die Nachrichten pünktlich beendet hatte. So musste Christian Kuhnt, Intendant des SHMF, seinen Traum, den er zur Deutung frei gab, noch etwas strecken. Es war einer, in dem Helene Fischer im Zentrum stand. Sie sollte die Arie der Königin der Nacht singen. Dass, so deutete Kuhnt seine Traumerscheinung selbst, sei vice versa genauso wenig vorstellbar, wie Hindemiths Musik einem breiten Publikum in Fischers Genre zu Ohren zu bringen. Dennoch habe der Tag vorher gezeigt, dass die „Harmonie der Welt“ großartig angekommen sei. Nun ja, ein Schelm, wer noch nicht merkte, dass der Intendant auf diese stille Art sein Publikum wieder aufforderte, sich in seinem Applaus ebenso zu verhalten.
Die Musik
Die beiden Teile des nun folgenden Konzertes scheinen wenig gemeinsam zu haben. Brahms romantische Sprache, die gerade im zweiten Klavierkonzert besonders aufleuchtet, der sehr persönliche stilistische Ausdruck des Hamburgers, der hier, ohne deskriptiv zu werden, eigenes Erleben verarbeitet, und ein schwelgender Grundton stehen fast diametral dem sinfonischen Gestus Hindemiths gegenüber, der mit handwerklichem Geschick geistige Inhalte sinnlich in Töne zwingt. Er ist ein Klassiker, einer der vier Großen im beginnenden 20. Jahrhundert. Neben Schönberg, Bartok und Strawinsky ging der Jüngste, ging Hindemith den Weg, eine eigene Tonlehre zu entwickeln. Sie vereint Melos und Harmonik. Sein Komponieren, und dafür ist gerade diese Sinfonie ein großartiges Beispiel, ist immer durchdacht und kalkuliert, trotz manchmal überbordender, auch mitreißender Energie.
Die Sinfonie „Die Harmonie der Welt“ aus dem Jahre 1951 wird fünf Jahre später in Hindemiths Oper über das Leben und Schaffen des Astronomen Johannes Kepler ausgeweitet. Sie ist aber zugleich ein geistiges Konstrukt, das sich im Medium der Musik mit Gesetzmäßigkeiten des Planetensystems und der Zahlen befasst. Ihre drei Sätze wirken sehr straff, sind tiefgründig versponnen oder von kraftvoller, elementarer Wucht und bieten einem Orchester reichlich Gelegenheit, instrumentales Können zu präsentieren. Alan Gilbert gelang zudem eine bemerkenswerte Balance zwischen den Stimmen, die alles Akademische verbannte und Hindemiths polyphones wie konzertantes Wesen als „Ludus tonalis“ präsentierte. So ist den Musikern und seinem Dirigenten zu danken, an diesen Komponisten zu erinnern, zumal er auch beim SHMF eine bedeutsame Rolle spielt. Seit 1990 wird jedes Jahr ein Preis vergeben, der Hindemiths Namen trägt und herausragende zeitgenössische Komponisten fördert. In diesem Jahr erhält ihn Hannah Kendall, 1984 in London geboren.
Igor Levit
Auch die erste Komposition reiht sich unmittelbar in das Festivalgeschehen ein. Viele Jahre gab es Länderschwerpunkte, denen acht Jahre Komponisten-Retrospektiven folgten. Johannes Brahms ist nun der designiert letzte darin, aber im Programm 2022 mit bedeutsamer Repräsentanz. Was im nächsten Jahr folgt, hüllt der Intendant noch in geheimnisvollen Dunst.
Für den diesjährigen Auftakt allerdings hätte das Festival kaum einen besseren Interpreten finden können als Igor Levit. Er wurde 1987 geboren. Da gab es das Festival bereits, allerdings erst ein Jahr. Was sein Spiel auszeichnete, war ein zwar vitaler, doch zeitweise äußerst zarter Anschlag. Er nutzte das bewusst für seine Interpretation, die mit Umsicht dynamisch die führenden Partien von denen nur begleitender oder klanglicher Funktion trennte. So deckte er ein tiefes Verständnis für Brahms‘ Gestaltungstechnik auf. Das steigerte spürbar das homogene Miteinander, das zwischen ihm und dem Orchester im Tutti oder in einzelnen Stimmen entstand, das sich auch mit der Auffassung des Dirigenten deckte. Blicke und kleine Gesten bestätigten, dass sie sich im Zusammenspiel vertrauten. Den Zuhörer musste das bannen, wie sich schon im Kopfsatz bedeutsam die Themen vermischten, wenn er das feine Hin und Her zwischen den Partnern erleben konnte. Im zweiten Satz überzeugte die innere Dramatik, im dritten die Ruhe und der feinsinnige Dialog mit dem Cello. Im Finalsatz schließlich war das Sinfonische beachtenswert, wie es sich mit den leichten, tänzerischen Elementen mischte.
Der Beifall dauert lang. Er dankte mit dem poetischen „Der Dichter spricht“, dem Schlusssatz aus Schumanns „Kinderszenen“. Ein wahrlich imponierender Festival-Beginn!