Hauptbild
Das fast vollständige Solistenensemble ist in bunt-poppiger Abendgarderobe zu einem kämpfend singenden Knäuel verknotet.
Das fast vollständige Solistenensemble ist in bunt-poppiger Abendgarderobe zu einem kämpfend singenden Knäuel verknotet.
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Neues Sendeformat „Marry the Prince“ – Rossinis „La Cenerentola“ in Nürnberg

Publikationsdatum
Body

Im Postfeminismus wird noch immer mit allen Mitteln gefochten, wenn Barbie-Miezen einem Studio-Märchenprinzen an die Wäsche wollen. Die Showszenen des neuen Formats „Marry the Prince“ gelingen am Staatstheater Nürnberg mit Nachdruck. Die Paraderolle der Aschenputtel (Corinna Scheurle) als junge Frau mit Beinbehinderung, die der Herzensgüte zum Sieg verhilft, kann nicht ganz daran anknüpfen. Die Staatsphilharmonie unter Björn Huestege zauberte in „La Cenerentola“ Rossini-Glück, Sergei Nikolaev ist als Don Ramiro ein idealer Belcanto-Tenorino.

An Übernahmen von Posen und Blickwechseln aus der uralten, an fast vierzig Opernhäusern einstudierten „Cenerentola“-Inszenierung von Jean-Pierre Ponnelle kommt nicht einmal Nürnbergs Schauspieldirektor Jan Philipp Gloger bei seinem Sparten-Fremdgang ins Opernhaus Nürnberg aus. Ebenso wenig wie vor über zwanzig Jahren noch Christine Mielitz bei der letzten Nürnberger Produktion von Gioachino Rossinis sehr individueller Vertonung des „Aschenputtel“-Märchens. Das war damals eine große Belcanto-Stunde von Frances Pappas, Dimitris Tiliakos und Sibrand Basa. In der zweiten Vorstellung der satirisch-engagierten Lesart saß viel Zielpublikum jener Shows im Parkett, über die Gloger sich in seiner Inszenierung belustigte.

Emotionales Koloraturen-Feuerwerk

„Setzt diese Tussis vor die Tür!“ singt Prinz Ramiro, wenn er der Kleidertausch-Maskerade mit seinem Kammerdiener Dandini ein Ende macht und der rosa Revue-Blazer an ihn zurückgeht. Der Journalist Jacopo Ferretti hatte wegen der spärlichen Mittel des römischen Teatro Valle für die Uraufführung 1817 den ganzen Märchen-Zierrat weggefegt und aus der guten Fee der Fassung von Charles Perrault den Hofphilosophen Alidoro gemacht. Dieser rät in Rossinis halbernster Oper zum Klamottenwechsel von Prinz und Lakai, weil man nur auf den unteren Sprossen der sozialen Stufenleiter deutlich mitbekommt, wie die Menschen wirklich ticken. Was bis zu Angelinas großer Schlussarie und „La bontà in trionfo“, dem „Triumph der Güte“, passiert, bejubelt Dramaturg Georg Holzer als eine „unvergleichliche Zeit“ zur „Musik Rossinis, in der gewaltige Energien entfesselt werden, um alles beim Alten zu lassen“.

Neu ist zweierlei an Glogers Regie des gleichermaßen motorischen wie emotionalen Koloraturen-Feuerwerks, das inzwischen fast so häufig gespielt wird wie Rossinis „Barbier von Sevilla“. Dass aus der durch Verschwendungssucht ruinierten Palazzo-Bruchbude und dem süditalienischen Prinzenpalais in Salerno ein Studio der Show „Marry the Prince“ wurden, ist anno 2023 fast selbstverständlich. Nicht aber das beträchtliche Investment des Staatstheaters Nürnberg in frauliches Statisterie-Personal. Bei Rossini gibt es eigentlich „nur“ (Hof-)Herrenchor (flott und präzis lanciert von Tarmo Vaask), der in Ben Baurs und Linda Siegismunds Studio-Räumen von einem ganzen Mädchen-Rudel mit Vollhaar-Prachten und Barbie-Monturen von Tüll bis Türkis gestürmt wird. Justina Klimczyks Kostüme lassen keine RTL-Shop-Wünsche offen. – Voll emanzipiert: Hier sind es Cenerentolas aufstiegsorientierte Stiefschwestern Clorinda (Chips statt Prinz für Chloë Morgan) und Tisbe (mondäne Schneewittchen-Fasson zu brillanter stimmlicher Rossini-Affinität: Sara Šetar), die ihre Händchen in Herrenhosen schieben und beim Gerangel um den silbernen Schuh (bei Rossini eigentlich ein Armreif) noch andere Schlagtechniken als Haareziehen beherrschen. Ganz Schauspielmann kam Gloger bei dem einen verlorenen Schuh auf bemerkenswerte Gedanken: Angelina Aschenputtel hat eine Beinbehinderung, ihr Stiefvater ein Alkoholproblem und während des Kleidertauschs erlebt Prinz Ramiro beim Gelegenheitsjob als Bühnenarbeiter einen Klassismus an der eigenen Haut. Erst nach kurzer melancholischen Trübung des Versöhnungsjubels kommt es zum tatsächlichen Happy End: „Nie mehr traurig“ singt Angelina und alle werden wahrhaft glücklich.

Bravouröse Premiere mit Raum für Unbekanntes

Stars sind diesmal der (echte) Prinz und die Staatsphilharmonie Nürnberg. Was diese an liebevollen Holzbläser-Kantilenen, Streicher-Rasen und Blech-Punkten vorführt, hat allerhöchste Rossini-Kompetenz. Björn Huestege setzt alle Stimmen ins beste Licht. Sogar die, welche noch kein Durchbruch-Erlebnis zum Belcanto hatten. Wonyong Kang singt als Philosoph Alidoro die unbekanntere Arie vom „großen Theater“ anstelle der bekannteren Bravournummer. Taras Konoshchenko ist ein eher taktiler als rabaukiger Stiefvater Don Magnifico, Ben Connor als Kammerdiener Dandini beeindruckt mit musicalgemäßer Wendigkeit. Von den beiden Schwestern gibt Chloë Morgan die nölende Prinzessin, Sara Šetar die elegante Kanaille. Corinna Scheurle weiß in der Paraderolle Angelina und unter Ingo Brackes Studio-Spots noch nicht, ob ihr Weg in die helleren Mezzosopran-Gefilde oder Richtung dunkle Belcanto-Fülle führt. Momentan stehen ihr beide Optionen offen – die Entscheidung trotz beträchtlicher Koloraturfähigkeiten ungewiss. Im Gegensatz zu Sergei Nikolaev: Er genießt – wie schon im „Liebestrank“ – die kurze Zeit als Belcanto-Tenorino mit subtiler Verve, nimmt Rossinis tückische Höhen mit eleganter Leichtigkeit und ist auf der Bühne Sympathiefigur. Bei der ersten Begegnung mit Angelina und in seiner Arie bleibt die Zeit stehen. Da findet auch eine Rückverwandlung der Aufführung zum Märchen statt, das in weiten Teile das Staatstheater-Sendeformat „Marry the Prince“ in Vergessenheit gerät. Ein fetziger bis schöner Abend, für den die Hauptpartie unter physiotherapeutischer Fachanleitung einiges zu üben hatte.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!