„Progressives Erbe“ pur! In der ehemaligen DDR bezeichnete man mit diesem Begriff Kunstwerke, welche die Durchschnittsproduktion ihrer Entstehungszeit überragten und gesellschaftliche Positionen so reflektierten, das sie in die Ideologie des eigenen (damals sozialistischen) Systems passten. Der neue „Julius Cäsar in Ägypten“ bei den Händel-Festspielen Halle ist auch „progressives Erbe“: Zum einen bringt es das fast einmütig umjubelte „Ritorna vincitor“ („Als Sieger kehre heim!“ – Aida) des früheren, auch an der Stätte seiner ersten Triumphe umstrittenen Oberspielleiters Peter Konwitschny. Zum anderen zeigt die frisch mit dem Theaterpreis des Bundes ausgezeichnete Oper Halle, wie man die Händel-Gemeinde zu begeistern vermag. Von Festspielschablone also keine Spur.. Ein Bericht von Roland H. Dippel.
Die Premiere der Händelfestspiele ist für Sachsen-Anhalt das, was die Spielzeiteröffnung der Mailänder Scala für Italien bedeutet. Der gesellschaftliche Höhepunkt und im Idealfall auch ein künstlerischer. Dieses Jahr hat die Kulturhauptstadt Halle die in Hinblick auf erregende Begleitumstände bestens aufgestellte Modemetropole nicht nur erreicht, sondern sogar übertroffen. Entrüstungen und Mutmaßungen der Öffentlichkeit, immer wieder neue Stellungnahmen des Theateraufsichtsrates, des Orchestervorstands, der Spartenintendanten und des Geschäftsführers lasten seit Monaten auf den überregional gewürdigten Leistungen der Oper Halle. Die Nicht-Verlängerung von Opernintendant Florian Lutz ist der Stein des Anstoßes und polarisiert.
Die Begrüßungsreden vor dem internationalen Festspielpublikum ähneln eher Aufforderungen zum Waffenstillstand als Friedensbotschaften. „Zufriedene Zuschauer“ wünscht sich Oberbürgermeister Bernd Wiegand und lässt offen, ob er das als Ziel oder Voraussetzung für künstlerische Herausforderungen meint. Und er zitiert den Regisseur Peter Konwitschny: Es sei ein Glück, dass man die Querelen um das Haus aus dem Probenprozess herausgehalten habe. Sir Sebastian Wood, Botschafter des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland, plädiert als Schirmherr der Händelfestspiele 2019 für den Komponisten als starkes Kulturband zwischen Großbritannien und der EU. Konwitschny, dessen Hallesche Händel-Inszenierungen von „Floridante“, „Rinaldo“ und „Tamerlan“ trotz späteren Kult-Status umstritten waren, über sein Procedere: „Händel braucht man nicht zu aktualisieren, denn Händel ist aktuell“. Punkt.
Das dialektische Seziermesser der Regie
Wie schon bei der letzten Hallenser Opernpremiere „Ariadne auf Naxos“ kann, wer will, Analogien zwischen Kunst und Welt entdecken. Peter Konwitschny, von Opernintendant Florian Lutz langfristig zur Rückkehr umworben, und Burg(-Giebichenstein)-Preisträger Helmut Brade lassen sich vor keinen Meinungskarren spannen. Sie machen ihre eigene Show wie seit über dreißig Jahren. Dafür gibt es viel Beifall und einige gnadenlose Buhs.
Zu kurz kommt an diesem Abend kaum ein Interessenschwerpunkt: „Julius Caesar in Ägypten“ ist ein bemerkenswerter Beitrag zum Festspielmotto „Empfindsam, heroisch, erhaben – Händels Frauen". Alle drei Attribute geraten, wenn auch in veränderter Reihenfolge, unter das dialektische Seziermesser der Regie. Die Haupt- und Staatsaktion wird, wenn schon nicht zur Händel-Aufführung des Jahres, garantiert zur Offenbachiade des Jahres und damit eine indirekte Hommage an den Europäer aus Köln. Jeder bekommt sein Fett ab vor Pyramiden und Palmen, die Helmut Brade wie aus dem Kinderbuch vor einen blauen Himmel setzt. Plumpe Blondschöpfe aus dem Okzident, zum Teil mit messerscharf gezogenem Seitenscheitel, kämpfen gegen elegante Ägypter und Syrer mit beeindruckend nach vorn getrimmter Vollbartpracht. Gift rafft einen Vorkoster beim Bankett à deux der politischen Spitzenkräfte Caesar und Ptolomäus jäh dahin, mitten in Caesars Jagdarie: Der Sänger des Caesar und die Solo-Hornistin (Petra Hiltawsky-Klein mit langem Atem und Tirolerhut) stocken, nehmen nach dem dumpfen Aufprall des Körpers und ersticktem Aufatmen im Parkett die musikalische Linie wieder auf.
Triumph des zeitlos werdenden realistischen Musiktheaters: Die Kastratenpartie des Sesto wird ersetzt durch den kindlichen Darsteller Benjamin Schrade, dessen herzerweichender „Mutti“-Ruf auch aus den Übertiteln gellt. Der kleine Sextus hängt sich erst beschützend an die auf kräftezehrende Trauerarbeit fixierte Römerin Cornelia und lernt zu morden wie die Großen. Ein Teil des festlichen Publikums freut sich und applaudiert.
Von den Pyramiden nicht weit liegt die Festung Masada, wo man das abgeschlagene Haupt eines Wandertäufers der nymphenartigen Prinzessin auf einer Silberschüssel kredenzte. Konwitschny transformiert listig römische Geschichtsschreibung und biblische Legende. Es fehlt nur noch, dass verrohte Söldner das Haupt des Pompejus zum Fußball machen. Dafür darf dieses mit der Stimme des Countertenors Jake Arditti sogar mit mehreren der ihm aus dem Part des Sextus übertragenen Arien brillieren.
Die legendäre Thronanwärterin Cleopatra hat Qualitäten wie ein blutjunges Salome-Double in Spiel und Tanz, hält die Giftnatter als letzten Ausweg riskanter Politik- und Verführungsmanöver immer in Streichelnähe. Davon geht die Welt doch unter: Caesar will für sich und Rom die Weltherrschaft. Am Ende versinken die Römer, während sie mit Feldstechern auf die ins Meer stürzende Sonne stieren. Der Rest ist (aus dem ersten Akt herangeschobenes) Duett: Cleopatra und Cornelia klagen, jede für sich, über den internationalen Scherbenhaufen. Schluss ohne Happy-End.
Kreative Aufführungspraxis
Ein Trostpflaster: Es ist die beste Leistung des Händelfestspielorchesters seit Jahren, weil der mit Konwitschnys Bühnenfestspielen erfahrene Gastdirigent Michael Hofstetter autonom weiterdenkt. Hier heißt historische auch kreative Aufführungspraxis. Die gehärtete deutsche Textfassung von Werner Hintze nach Nicola Hayms Libretto für die London Academy of Music schmälert die Genussenergie von Händels Melodien keineswegs. Eleganz kann auch rau sein. Hofstetter entfesselt ein kräftiges Janitscharen-Konzert mit Rasseln, Scheppern, Schallen wie eine Parallelpartitur.
Beachtlich ist, dass alle auf der Bühne besser spielen als singen. Gesang macht Staat: In langen Koloraturketten wird bei Grga Peros als Caesar die Fülle des Bariton-Materials etwas dünn und bei Svitlana Slyvias Cornelia gerät die Trauergestik in Konflikte mit der Pianokultur. Außer Konkurrenz läuft Vanessa Waldhart: Lolita in Nahost zeigt auch vokal hybride Territorialansprüche.
Zweierlei spricht für die Oper Halle. Zum einen die Reaktionsschnelle, mit der für ausgefallene Sänger in den Partien von Ptolomäus (Tomasz Wija) und Achillas (David Pichlmaier) beherzter und leistungsstarker Ersatz gefunden wurde. Zum anderen: Eine glamouröse Festivalpremiere klingt anders – das will diese Produktion auch nicht sein: Zum zweiten Mal in dieser Spielzeit ist eine Neuproduktion der Oper Halle der Realität um mindestens eine Nasenlänge voraus. Selbst wenn diese Energie nicht schon längst überregional bekannt wäre: Das muss man dem Haus am Universitätsring erst einmal nachmachen.
- Georg Friedrich Händel: Julius Caesar in Ägypten – Händelfestspiele Halle / Oper Halle – Premiere: 31.05.2019, 19:30 (besuchte Vorstellung) – wieder am: So 02.06., 15:00 – Do 06.06., 19:00 – Mo 10.06., 15:00 und Wiederaufnahme in der Spielzeit 2019/20: Neue Textfassung von Werner Hintze in deutscher Sprache. Musikalische Leitung: Michael Hofstetter / Inszenierung: Peter Konwitschny / Ausstattung: Helmut Brade / Dramaturgie: Bettina Bartz / Solisten: Grga Peroš (Julius Cäsar), Vanessa Waldhart (Cleopatra), Svitlana Slyvia (Cornelia), Jake Arditti (Kopf des Pompejus – Partie des Sesto), Michael Zehe (Tolomeo), David Pichlmaier / Ki-Hyun Park (Achilla), Maik Gruchenberg (Nirenus), Benjamin Schrade / Fabian Waclawchzyk (Sesto). Chor und Statisterie der Oper Halle / Händelfestspielorchester Halle