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Over18-Opera made in Wahnfried: Siegfried Wagners „Der Friedensengel“ in Bayreuth

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In nur drei Wochen Probenzeit hat das pianopianissimo-musiktheater auf der Bayreuther Kulturbühne Reichshof mit Siegfried Wagners „Der Friedenengel“ zu digitalem Orchester ganze Arbeit geleistet. Der Sohn Richard Wagners ist als Komponist nicht nur besser als sein Ruf, sondern stellt zudem sittengeschichtliche, biographische und ästhetische Rätsel. Zwischen Schrekerschen Klangeruptionen und bösartigen Volksszenen ging es am 21. und 22. August um Lebensentwürfe homophiler Männer und eine Klosterflüchtige mit Bravourmonolog für Antiheldinnen-Sopran. Ganz schön gewagt für Karlsruhe 1926.

Text und Musik von „Der Friedensengel“ entstanden 1914, ein Jahr vor der Heirat von „Deutschlands begehrtestem Junggesellen“ mit Winifred Williams. Seit den Enthüllungsattacken Maximilians Hardens 1908 drohten Siegfrieds homosexuelle Begegnungen das allgemeine Image der Familie Wagner und der Bayreuther Festspiele zu schädigen. Zum Zeitpunkt der Uraufführung 1926 hatte Siegfried seinen vierfachen Beitrag zum Erhalt der Dynastie vom Grünen Hügel geleistet. Siegfried stellte sich für die Nachwelt selbst ein Bein, weil man die Bezüge zum Schaffen seines Vater Richard besser erkennt als die ihm weitaus wichtigeren Anliegen.

Mit „Friedensengel“ ist nicht nur eine Grabfigur oder ein Geistwesen, sondern der erlösende Selbstmord-Dolch gemeint. In diesem knapp dreistündigen Dreiakter outet sich Siegfried als einfallsreicher Klangkonstrukteur neben Franz Schreker und vergleichbar erotisch durchsetzter Dramaturgie. Die im 16. Jahrhundert in Franken angesetzte Handlung atmet einen Sarkasmus, der hinter den wildesten Volksstücken von Herbert Achternbusch, Franz Xaver Kroetz und Martin Sperr kaum zurückbleibt. Wie in Siegfrieds Opus 3 „Der Kobold“ oder im Opus 8 „Sonnenflammen“ begraben Skurrilität, Derbheit, ja Obszönität den dekorativen Schwulst à la Hans Makart und Felix Dahn aus kreativem Vorsatz, nicht als poetische Ausrutscher. Zum Beispiel singt Reinhold ein Plädoyer für Polyamorie im Bauarbeiter-Jargon.

Plädoyer für Polyamorie im Bauarbeiter-Jargon

Mit einem solchen Werk gewinnt man bei Intendanzen und das Riskante scheuenden Dirigierpersönlichkeiten nur in profilierten Einzelfällen Sympathien. Das gilt nicht nur für die Szene mit der Diskussion, ob Selbstmörder ein Begräbnis in geweihter Friedhof-Erde erhalten dürfen. „Der Friedensengel“ ist durchsetzt von phallischen Anzüglichkeiten. Klar ist auch, warum Winifred Wagner von Siegfrieds Opern den „Friedensengel“ wahrscheinlich am wenigsten mochte: Welche Ehefrau würde sich schon öffentlich als „guter Drache“ ihres bei allen Geschlechtern schwadronierenden Gatten inthronisieren lassen?

Für die Wiedergabe einer solchen Monsteroper im für Musiktheater unspezifischen Raum der Bayreuther Kulturbühne Reichshof braucht es neben Enthusiasmus vor allem eine Portion Verrücktheit. Es ist die vierte Produktion der von Katharina Wagner ausdrücklich für wichtig befundenen „Siegfried-Wagner-Festspiele“. Begonnen zum 150. Geburtstag Siegfrieds 2019 sollen in den kommenden Jahren alle seine Opern im Reichshof und später in der Stadthalle herauskommen. Zwar ist Siegfried Wagner kein Stimmkiller, aber ein äußerst anspruchsvoller Stimmanwender. Mindestens vier Partien im „Friedensengel“ enthalten sattes Sängerfutter.

Kann denn Übertreibung Sünde sein?

Ein physisches Symphonieorchester klingt generell besser, aber die niedrige Reichshof-Raumdecke ermöglicht eine super Textverständlichkeit. Der musikalischen Beschränkung begegneten Regisseur und Gesamtleiter Peter P. Pachl und der Video- und Bühnengestalter Robert Pflanz mit rasanter Lust an visueller Überfülle. Sie stürzten sich in eine Übertreibungsorgie, welche den ernsten Kern des Stücks umso deutlicher an die szenische Oberfläche drückt.

Kann Übertreibung Sünde sein? – Mitnichten, hier wird sie zur ästhetischen Rettung: Der den ganzen Abend minimal blecherne, aber im Umgang mit dem Ensemble von Leykam sehr sensibel gehandhabte Orchesterklang reizt zum bizarren Opern-Overkill. Also dringen während des Abspanns wie einer SF-Serie der 1970-er Jahre Weltraumreisende in weißen Schutzanzügen in einen leeren Raum mit Bücherstapeln. Sie beginnen zu lesen, wie es war im Anthropozän bis zur atomaren Auslöschung des sog. Homo sapiens. Diese vorgefundenen Wissenssplitter ereignen sich dann. Video-Sturmfluten überholen sogar die reißende Handlungsdichte und -geschwindigkeit von Siegfrieds Oper. Im Kern geht es um zwei Männer, die sich in ihren heteronormativen Ehen sexuell, emotional und energetisch nicht ausgelastet fühlen. Deshalb techteln, tändeln und kosen sie mit der gleichen Geliebten – der bei Gutbürgern verrufenen Mita. Willfried (Giorgio Valenta) sagt sich von seiner Frau Eruna (passend kräftig und zehrende Töne von Julia Reznik) los. Er bringt sich um, selbst als Mita ihn nicht auf dieser letzten Reise begleiten will. Willfrieds Mutter Kathrin (Maarja Purga agiert bewegend in der 1975 von Martha Mödl gesungenen Partie) verschleiert den Suizid und bezichtigt Mita des Mords. Diese flieht erst in ein Kloster und flüchtet alsbald von dort, weil sie mit der Askese nicht klarkommt und auch sonst noch etwas Spaß braucht. Ihr Liebhaber Raimund heiratet und will außerdem nicht von seiner Berufung als multisexueller Menschenbeglücker absehen. Aber jede Generosität hat ihre Grenzen: Mann darf Promiskuität, Frau aber nicht. Mita muss vors Fehmgericht und findet durch etwas verworrene Begleitumstände auf Willfrieds Grab Erlösung.

Hitverdächtiger Friedensgesang einer Klosterflüchtigen

Rebecca Broberg singt die Hauptpartie mit dem hitverdächtigen Friedensgesang der Klosterflüchtigen flutend, pathetisch, innig. Für Pachl und das Ensemble steckt des Handlungsrätsels Lösung in einer ganz einfachen Ergänzung. Sie gesellen den am Ende zum auferstehenden Heiland werdenden Epheben Mitja zur wie eine abgestürzte Krankenschwester durchs ländliche Geschehen (lust-)wandelnden Mita. Der Mitja macht alles klar: Einerseits haben Mathis Bargels Gesichtszüge frappierende Ähnlichkeit mit denen auf Knabenfotos von Siegfried Wagner. So wird kenntlich, wie Dichterkomponist Wagner II. in „Der Friedensengel“ mögliche Lebensentwürfe homophiler Männer durchspielt: Das Doppelleben, Masken der Lust – und Tröster Tod als Flucht von sozialen Zerreißproben für den Mann selbst und seine halbwissenden Angehörigen. Mindestens einmal wird Siegfried-Mitja angesichts der menschlichen Trieb- und Treibhauseffekte speiübel.

Pachl hetzt die Sänger deftig, wissend und verschmitzt in Leid, Lust, Sarkasmus und sogar Klischees auf flachestem Comedy-Niveau. Das passt zur Musik, den Dialekt-Alfanzereien des Textbuchs und den von Siegfried kräftig pervertierten Genreszenen. Wenn es Figuren gibt wie die Verlobten Gundel (Anna Ihring) und Anselm (Lars Tappert) weiß man sofort, dass die innig schön Richtung antihumanes Mitläufertum singen. Rafaela Fernandes gibt als Frau Gerta eine priapische Domina, die Raimund weniger zur Raison bringt als mit ihrer Reitpeitsche in die Ekstase treibt. Mit solchen horizontalen Spielen macht sie sich gute Freunde im Bürgermeister Balthasar (prachtvoll wie schon letztes Jahr als Kaiser Alexios: Uli Bützer), beim Pfarrer (typgerecht strenge Belcanto-Fülle: Robert Fendl) und beim Pfarrer (voll partienkompatibel: Chunho You). Sie ist vor allem aber die Meisterin über ihren Gatten. Andries Cloete wäre als Raimund das ideale Regie-Fressen für Calixto Bieito: Bei Cloete hört und sieht man, dass Raimund in allen Swingerclubs, schwulen Saunaparks und Schulmädchenreports Duft- und Gebrauchsspuren hinterlässt. Der derbe Erotikspaß hört in dieser „Friedensengel“-Inszenierung allerdings auf, wo Frauen und Schwule Stigmatisierte und Opfer werden: Valentas Blick als Willfrieds Totenerscheinung geht durch und durch wie Mitas Verletzungen, die erdrückt von sexueller Erschöpfung und kollektiver Erbosung gar nicht mehr auf die Beine kommt.

Aus den Bühnenbild-Skizzen von Wieland Wagner – er nahm als Festspiel-Entrümpler von seinem Vorhaben der Inszenierung aller Opern seines Vaters Abstand – schälen und fräst sich eine Enzyklopädie der Zeitgeschichte und des schlechten Geschmacks seit 1945. Solche Nackt- und Nonnenfilmchen italienischer Provenienz muss erst mal finden, wie sie Mitas rauschhaftes Solo kolorieren. „Der Friedensengel“ gehört zu den Opern, deren Erfolg davon abhängt, was man aus ihr macht. Das war an ungewohntem Platz Reichshof eine beeindruckende Menge. Jetzt fehlt nur noch ein mittleres oder großes Opernhaus, welches dieses fokloristisch-symbolistisch-homophile Mysterium aus dem Hause Wagner mit physischem Orchester und ebenbürtigem Schmackes zum internationalen Leuchten bringt.

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