Eine stärkere Einheit von Wort und Ton, selbst gemessen an den Musikdramen von Cornelius’ Busenfreund Richard Wagner, der dem Jüngeren in Wien eine dauernde häusliche Gemeinschaft, ein Leben wie Mann und Frau, angeboten hatte, ist auf der Opernbühne selten zu erleben. Im Gießener Stadttheater wird die vielschichtige und beziehungsreiche Handlung des „Barbier von Bagdad“ musikalisch domestiziert und szenisch verschmälert zu einer „Biene Maja“-Geschichte.
Gegen Bearbeitungen – aber doch eine Bearbeitung
Chefdramaturg Dr. Matthias Kauffmann betont im Programmheft des Gießener Stadttheaters, dass Cornelius’ Oper – entgegen der „Umarbeitung und Verbesserung vermeintlicher Schwächen“ durch Felix Mottl und Hermann Levi – „keiner Rettung oder Rechtfertigung“ bedürfe, in ihrer „eigenwilligen Beschaffenheit“ als eine „Spieloper für eine Utopie“. Wie Recht er hat.
Aber offenbar weiß am Gießener Theater die eine Hand nicht, was die andere tut: Dirigent Jan Hoffmann setzt die nachkomponierte, Mottlsche Potpourri-Ouvertüre an den Anfang, praktiziert dann zahlreiche der Striche Levis und reiht sich in die Riege besagter Cornelius-Bearbeiter ein, indem er das Ende der Mottl-Ouverüre im ersten Akt erneut erklingen lässt. Dies passiert anstelle jenes Duetts der in der Opernliteratur überaus seltenen Duette zwischen Tenor und Bass („O Liebe, Liebe, seligstes Gefühl!“), welches in Cornelius’ Partitur den greisen, neunzigjährigen Barbier mit dem jungen Heißsporn Nureddin zum Zwiegesang vereint.
Da der Dirigent obendrein auch der Chordirektor des Hauses ist, durfte sich der Cornelius-Kenner in der Gießener Aufführung jene Chornummer erwarten, die in der Hildesheimer Interpretation unter Werner Seitzer einen Höhepunkt des Abends gebildet hatte, „Beherrscher der Gläubigen, Preis dir und Heil!“ – aber seltsamerweise strich Hoffmann auch diesen Chorsatz und leistete auch hiermit den Bearbeitungen von Mottl und Levi Folge.
Fragwürdigkeiten zuhauf
Fragwürdigkeiten zuhauf: In der neuen Gießener Fassung werden die eigenwilligen sprachlichen Betonungen des Dichterkomponisten, der in zahlreichen Fremdsprachen, auch im Persischen, bewandert war und der daher etwa „Muezzin“ auf der zweiten Silbe betont, verschlimmbessert. Die vom Komponisten intendierte klangliche Raumwirkung dreier unterschiedlich weit entfernter Minarette wird nicht nur ad absurdum geführt, sondern umgekehrt, wenn der dritte, am weitesten entfernte Muezzin, im Rang des Auditoriums positioniert zur präsentesten Stimme der „Allah“-Rufe wird.
Verharmlosung im Zuge von political correctness
Viel ist in Roman Hovenbitzers Inszenierung zu sehen. Die Handlung beginnt noch während der Ouvertüre: Abul Hassan pflanzt als Gärtner (eine Profession, die in der Aufzählung seiner 42 Berufe offensichtlich fehlt) Blumenzwiebeln. Biene Margiana, morgenländisch verschleiert, gießt Goldstaub darüber (es wird viel gegossen in Gießen!), und rote Blütenblätter entfalten sich, die dann durch Amöben – Nureddins Diener – abgerissen werden. Aus den Töpfen wächst ein Wald spitzer Barthaare bis in den Bühnenhimmel, die der Barbier später mit seinem Rasiermesser vernichten wird. So wird Nureddin seines Patriarchenbartes beraubt, nicht jedoch seines Haupthaares, welches er sich in der Oper eigentlich rasieren lässt. (Aber vorsorglich ist Abuls Satz, „Du hast keine Wahl, / es schert mein Stahl/ den Kopf dir kahl!“ auch gestrichen).
Der Schneider Nureddin ist eine abgestürzte Hummel, die sich an den Oberschenkeln mit Blütenstaub-Einreibungen aufgeilt und an der Opiumpfeife berauscht. Abul Hassan kriecht als Mischung von Don Quichote und technisch perfektionierter Schildkröte herein, der für seine Erzählungen über die an den Folgen ihrer Liebeshändel verstorbenen sechs Brüder deren Panzer als Babuschka-Schachtelung mit sich führt, mittendrin aber auch noch seinen eigenen – somit in doppelter Ausführung.
Dass der Barbier anstelle der ihm von Nureddin verordneten medizinischen Qualen von den Dienern nur eingewickelt wird, erscheint als Zitat aus Peter Mussbachs Augsburger Inszenierung dieser Oper im Jahre 1973. Die Regie, mit gut gearbeiteter Personenführung in den Duetten, setzt auf Effekt, nicht auf Verständlichkeit. Dass Margianas Verbindung mit Nureddin eine Flucht vor der islamischen Zwangsverheiratung ist, dürfte den Besuchern in Gießen unklar bleiben – vielleicht bewusst so realisiert als ein Akt falsch angewandter political correctness.
Und dass der Vater der Biene Margiana ein Segway fahrender Skorpion ist und ihre engste Vertraute ein Maulwurf, das würde wohl selbst von der Redaktion dümmster Animations-Tierfilmproduktionen nicht akzeptiert.
Im zweiten Finale ist „ganz Bagdad“ die ins nicht vorhandene Haus des Kadis strömende Bevölkerung eine Gruppe von Blumenzwiebeln. Dann nagt bereits eine Geier-Handpuppe am vermeintlich toten (in der Zwiebel erstickten?) Nureddin.
Im ersten Akt hatte der gesamte Herrenchor die Gruppe der vom Komponisten namentlich genannten, individuell geführten Diener Nureddins – von Ali bis Motawackel – als uniforme Parasiten numerisch erweitert.
Die als Bienenkönigin ausstaffierte Sängerin der Margiana war als indisponiert angekündigt, sodass Karola Pavones tonale Punktierungen wohl ihrer Erkältung zugute zu halten sind. Als Bostana machte die Mezzosopranistin Marie Seidler, als Maulwurf maskiert und kostümiert, ihre Sache gut, während die stimmliche Gestaltung des Kadis (Dan Chamandy) und des Blumenzwiebel-Kalifen (Grga Peroš) doch sehr zu wünschen ließen.
Überragender Sängerdarsteller der Titelfigur
Es gibt aber auch musikalisch Gutes zu berichten: Sieht man von seltsamen Pausen-Einschnitten des Dirigenten im ersten Akt ab, vermittelt das Philharmonische Orchester Gießen die gleichermaßen melodienreiche wie witzige Partitur durchwegs sauber und plastisch. Der lyrische, ohne Mühe zu dramatischer Steigerung fähige Tenor Clemens Kerschbaumer gestaltet den Nureddin mit kraftvollem Tenor kunstvoll differenziert.
Alle beteiligten Sängerdarsteller_innen überragt der junge Philipp Meierhöfer in der Titelpartie des 90-jährigen Barbiers Abul Hassan Ali Ebn Bekar. Meierhöfer, der auf DVD und CD auch mit Raritäten, wie dem fahrenden Schauspieler Kümmel in Siegfried Wagners „Der Kobold“, op. 3 oder dem „Urschlamm-Idyll“ von Ludwig Thuille, vertreten ist, singt die Titelpartie von Cornelius’ Meisterwerk hinreißend nuanciert. Jene Koloraturen und Rouladen, mit denen der sich selbst als „Universalgenie“ umreißende Barbier dem von ihm erst zur Hälfte rasierten Nureddin die Zusammenhänge seines bevorstehenden Liebesabenteuers entlocken will, hat seit Rainer Süß niemand so hintergründig witzig gesungen und mit so deutlich nachvollziehbaren Subtexten verkörpert, wie der junge, an der Komischen Oper Berlin engagierte Bassist. Meierhöfer reichert die schwierige, aber auch dankbare Partie obendrein mit ungewohnt viel Spielastik turbulent an.
Farbenfrohe Dekorationen
In Duncan Haylers überaus farbenfrohen, accessoirereichen Kostümen und detailverliebt technisierter Bühnenausstattung ist jene Schatzkiste, in die Nureddin gesteckt wird, durch die Silhouette einer (flachen) Blumenzwiebel ersetzt, und auch die Solisten besingen die Morgengabe von Margianas Zwangsgatten stets als „Gabe“ statt als „Kiste“, wodurch die Handlung einiges an Spiel-Witz einbüßt.
Warum Cornelius’ auch als erotische Deutungsebene so wichtige und klangtypische „Rosen“, (bis hin zum Rosenduett in seiner dritten Oper „Gunlöd“) hier durch das Wort „Blumen“ ersetzt wurden, bleibt ebenso ein Rätsel, wie die Tatsache der – leider ohne Witz und Biss, dafür aber recht unsanglich – neu textierten berühmten Schlussansprache des Abul Hassan, „Heil diesem Hause, denn du tratst ein – Salam Aleikum!“.
Da die politische Großwetterlage bei Erwähnung der Stadt Bagdad durchaus nicht „Erzählungen aus 1001 Nacht“ assoziiert, war es um Peter Cornelius’ Meisterwerk, das Franz Liszt 1858 am Hoftheater in Weimar aus der Taufe gehoben hatte, in den vergangenen Dezennien merklich still geworden. Vor vier Jahren, zum Wagner-Jahr, war das Landestheater Coburg der Spielvorlage klinisch zu Leibe gerückt und hatte den unfreiwilligen Aufführungsbann gebrochen. In dieser Spielzeit kündigen auch die Bühnen in Plauen-Zwickau und in Wuppertal Produktionen des „Barbier von Bagdad“ an: mit Migranten und Flüchtlingen aus der Region Plauen und Zwickau und konzertant in Wuppertal. Vielleicht ist dies eine Begründung dafür, dass am Ende der Gießener Inszenierung ein Elefant in einer Wolke vorübergleitet, als ein Gedenken an jenen Elefanten Tuffi, der aus der Wuppertaler Schwebebahn gestürzt war und somit für Kenner der urbanen Mobilitätsgeschichte als Brechung des Happy-Ends.
In der zweiten Aufführung gab es im restlos ausverkauften Gießener Theater häufig Lacher für Cornelius’ Wort- und Situationswitz und am Ende herzlichen Applaus.
- Weitere Aufführungen: 23. Februar, 11. März, 23. April, 20. Mai, 25. Juni 2016
- Übertragung in Deutschlandradio Kultur am 4. 3. 2017, 19:05 Uhr.