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Für immer ganz oben von Brigitta Muntendorf. Foto: Franz Kimmel
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Public Viewing einmal anders – Die Münchner Biennale für neues Musiktheater

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Läuft man die Zufahrtsstraße zum Münchner Muffatwerk entlang, passiert man eine Ahnengalerie von Plakaten, die kommende Ereignisse ankündigen. Eines davon zeigt einen sehr dicken Mann, der voller Energie ausholt, um einen Ball – den sein imposanter Bierbauch doppelt – vollspann ins Tor zu donnern. Klar, die Fußball Europameisterschaft steht vor der Tür und ist in Zeiten des Public Viewing auch außerhalb der Stadien ein einträgliches Geschäft, genährt von den Erwartungen an ein neuerliches Sommermärchen.

Die Praxis der öffentlichen Liveübertragung ist allerdings nicht zwangsläufig gebunden an sportliche Großereignisse; wer sich nicht für elf Freunde und die Fußballkultur interessiert, muss ja dem Event an sich nicht abgeneigt sein. Das hat sich in den zwei Wochen vor der ‚Mission Europameister‘ gezeigt, als während der Münchener Biennale für neues Musiktheater eine musikkulturelle Form des Public Viewing geprobt wurde. Denn unter der neuen Doppelspitze Manos Tsangaris und Daniel Ott erlebt das traditionsreiche Festival eine Neuausrichtung, die weniger auf klassisch orientiertes Musiktheater setzt, wie es der Gründervater Hans Werner Henze pflegte. Vielmehr üben die beiden Komponisten-Kuratoren ein kollektives Pressing in Richtung performativer und partizipativer Formate wie Installation oder Happening und setzen damit auch auf den Eventcharakter musikalischer Theatralität.

Anpfiff

Bei der offiziellen Eröffnung bringt Hans-Georg Küppers, Kulturreferent der Landeshauptstadt München, seine Erleichterung zum Ausdruck: Man müsse froh sein, dass die Bayern frühzeitig aus der Champions League ausgeschieden seien – denn das Finale der Königsklasse und die Eröffnung der Münchener Biennale 2016 fallen auf dem Abend des 28. Mai zusammen. Statt das FC-bayerische „mia san mia“ öffentlich zu zelebrieren, strömen stattdessen viele Menschen die Zufahrtsstraße zur Muffathalle hinab, vorbei am Vollspannschuss des fulminanten Bierbauchs. Es war dies kein klassisches Publikum, sondern viele junge, einige hippe und kulturellen Großereignissen entgegenfiebernde Fans des Musiktheaters. Wie auch an den folgenden Abenden trifft sich diese spezifische Anhängerschaft im Festivalzentrum am Muffatwerk und trinkt Bier bevor man sich pünktlich zum Anpfiff in der Halle einfindet.

Spielzüge

Fußballbegeisterte Anhänger der Musikkultur kommen gleich im Eröffnungsstück auf ihre Kosten: Sweat of the Sun von David Fennessy, eine rauschhafte Audiovision von Werner Herzogs „Fitzcarraldo“, überzeugt durch atmosphärische Spielzüge und präsentiert seine dynamischen Darsteller in Sporthosen. Auch ein Ball rollt über die Bühne, wo die Auswahl des Festival Operadagen Rotterdam den Konzertmeister des Münchner Kammerorchesters schon einmal in einen Zweikampf verwickelt, der auch ein ordentliches Dribbling zeigt. Diese Reminiszenz an die bevorstehende Europameisterschaft ist kein Wunder – der in Schottland lebende Ire Fennessy hat in Frankreich ja gleich vier Teams von seiner Insel am Start. Am Ende des Festival-Turniers weiß man, dass in diesem Eröffnungsspiel gleich der Favorit auf den Gesamterfolg zu erleben war.

Sportiv ging es auch in der Produktion Underline zu, mit der Deville Cohen und Hugo Morales Murguia im Anschluss an Edwin Abbotts Roman „Flatland“ eine kinetische Skulptur als musikalisches Objekttheater entwarfen. In schwarzen Sportdresses gewandet und mit Kontaktmikrophonen verdrahtet, verwandeln die Performer ihren unermüdlichen Bewegungsdrang in kinetische Energie und übersetzten diese in Schwingung und Klang, während sie etwa aus rosa Gymnastikbällen eine Pyramide schichten, um diese schließlich mit überdimensionierten haarigen Beinen zum Einsturz zu bringen. Und auch in Brigitta Muntendorfs Produktion Für immer ganz oben im Müller’schen Volksbad wird sportliche Energie dramaturgisch verarbeitet: Buben von der U17 des Münchner Knabenchors rangeln sich in schwarzen Perücken und Stutzen zwar nicht um Fußbälle, üben sich aber immerhin mit Luftballons im Wasserball.

Das Taktikkonzept der Coaches

Wenn Sport im weiteren Verlauf des Festivals auch keine derart exponierte Rolle mehr spielt, so illustriert die Fußball-Metapher doch auch die Taktikvorgaben der Biennale-Coaches. Wie in der deutschen Nationalmannschaft werden nach dem Abgang des ‚Capitano‘ flache Hierarchien gepflegt: Nicht mehr ein Rudelführer bestimmt das Geschehen, sondern das Kollektiv zählt. Das zeigt sich nicht nur in der neuen Doppelspitze des Festivals – einem in Zeiten der ‚falschen Neun‘ fußballtechnisch allerdings etwas aus der Mode gekommenem Sturmkonzept: Manos Tsangaris arbeitet „ungern allein“ und Daniel Ott hat bereits mehrfach einen „fatalen Hang zu Kollektivkompositionen“ gezeigt. Und auch die Produktionen selbst stellen hierarchische Positionen in Frage, indem sie prozesshaft und partizipativ angelegt sind. Das ist sportlich erfolgsversprechend und auch künstlerisch prinzipiell lobenswert. Allerdings zerfasert das Programm im Verlauf des Festivals etwas und man beginnt mehr oder weniger heimlich die alten deutschen Tugenden des Musiktheaters zu vermissen: Werkhafte Beständigkeit, klassisch-musikalisches Handwerk und schließlich das Kerngeschäft der Oper: den menschliche Gesang.

Nur wenige Beiträge der Biennale 2016 lassen sich im klassischen Sinne als Oper bezeichnen, was im Einzelfall nichts Negatives bedeuten muss – im Gegenteil benötigt die Gattung Musiktheater dringend eine Öffnung hin zur multimedialen Realität und der Hybridisierung der Kunstsparten im 21. Jahrhundert. In der Summe aber gleichen die oft installativen und aktionistischen Produktionen manchmal endlosen Tiki-Taka-Ballstafetten, indem sie in ihrer Prozesshaftigkeit eben die Kernelemente der klassischen Oper – mitreißendes Drama und vokale Kunstfertigkeit – vermissen lassen. Es ist tatsächlich ein bisschen wie bei den sportlichen Großereignissen der Moderne: Das Event überwiegt und verbleibt dabei zu oft an der unterhaltenden Oberfläche. Statt Flaggen und Wimpel wird die Anhängerschaft mit Jutebeuteln in signalhaftem Rot ausgestattet. Auch animieren das hochprofessionelle Marketing und die Praxis des musikalischen Public Viewing eine große Zahl von Schaulustigen, welche den Ligabetrieb in den Abonnement- und Konzertreihen sonst eher nicht verfolgen; klassische Anhänger des Musiktheaters werden dabei allerdings etwas vernachlässigt.

Nachwuchsarbeit

Auch in Sachen Nachwuchsarbeit hilft die Fußballmetaphorik bei der Charakterisierung des Festivals: Wie in der deutschen Nationalmannschaft wird die Förderung junger Kräfte auch bei der Münchener Biennale großgeschrieben, die bereits Hans Werner Henze zu einem Ort machte, „an dem theaterinteressierte Komponisten der jungen Generation ihre Ideen in die Wirklichkeit umsetzen können.“ Manos Tsangaris und Daniel Ott legen einen Schwerpunkt auf die um 1980 herum geborene Komponistengeneration und anders als bei Fußballern bedeutet im Musikbusiness ein Alter in den 30ern nicht den allmählichen Austritt aus dem Berufsleben, sondern vielmehr den Eintritt in hoffnungsvolle Karrieren. Beiden Spielformen allerdings ist gemein, dass ein niedriger Altersdurchschnitt zwar für Frische, Explosivität und Innovation steht – dass die Stabilität des Kollektivs allerdings oft durch erfahrene Kräfte gewährleistet wird. Das zeigt sich bei der Biennale etwa im Beitrag von Georges Aperghis der mit seinen Pub-Reklamen einen Höhepunkt der Biennale beisteuerte. Der 70järhige Altmeister vertonte Werbeslogans nicht nur dramatisch überspitzt und witzig, sondern schuf auch eine anspruchsvoll gesetzte Komposition, die in der mitreißenden Performance der Gesangsartistin Donatienne Michel-Dansac zum leider wenig beachteten Hattrick wurde.

Aus der Tiefe des Raumes

Aussichtsreich ist schließlich die forcierte Praxis musiktheatraler Raumdeutung, die bei der Biennale 2016 bis zur Meisterschaft geübt wurde: Nicht nur durch die Verstreuung der Spielstätten über den Münchner Osten, wobei die Einbeziehung von subkulturellen Bolzplätzen wie dem Lothringer13 lobend herauszuheben ist. Manos Tsangaris und Daniel Ott wissen, „dass Oper überall stattfinden kann“ – was etwa durch Interventionen im öffentlichen Raum wie Staring at the Bin oder Phone Call to Hades in den Isarauen demonstriert wurde – und betonen: „Neues Musiktheater ist ein offenes Feld geworden, das auch gesellschaftliche Dissonanzen ausleuchten kann.“ Diese Feststellung ist ebenso wichtig wie richtig, allerdings wurde der entscheidende Pass in die Tiefe im spielfreudigen Tiki-Taka manchmal leichtfertig vertändelt. Oft genug aber hat es großen Spaß gemacht – und leichtfüßige Heiterkeit ist für die lange genug als ‚ernst‘ diskreditierte Experimentalsparte der Musikkultur vielleicht die wichtigste Botschaft der Münchener Biennale für neues Musiktheater 2016. 

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