Für den neuen Intendanten Michael Maul ist der Zyklus „Passionen“ nach dem bejubelten „Leipziger Kantaten-Ring“ mit 33 geistlichen Kantaten Bachs in 48 Stunden der innere Höhepunkt des Bachfestes vom 8. bis 17. Juni 2018. Es reihen sich Mario Schröders Choreographie der „Johannes-Passion“ in der Oper Leipzig, die „Matthäus-Passion“ mit La Chapelle Rhénane unter Benoît Haller, Zelenkas „Cristo al Calvario“ mit dem Ensemble Inégal und Passionskantaten von Christoph Graupner in der Hochschule für Musik „Felix Mendelssohn Bartholdy“. Doch der spannendste Beitrag ist Reinhard Keisers „Der blutige und sterbende Jesus“, das erste deutsche Passionsoratorium überhaupt.
Erstaunlicherweise gibt es noch keine CD dieses aufregenden Werks von Reinhard Keiser, des Thomaners aus Teuchern und zum Zeitpunkt der Entstehung Hauptkomponist der bürgerlichen Gänsemarkt-Oper in Hamburg. Dabei hatte die Musikwissenschaftlerin Christine Blanken Keisers eigenschriftliche Partitur des Oratoriums „Der blutige und sterbende Christus“ für eine Wiederaufführung, wahrscheinlich im Hamburger Dom, bereits 2006 in der Staatsbibliothek Berlin entdeckt. Das Ensemble Cantus & Capella Thuringia unter Bernhard Klapprott spielte das Opernoratorium 2010 in der St.-Petri-Kirche Wandersleben, dem Heimatort des Textdichters Christian Friedrich Hunold (genannt Menantes), und später bei den Tagen Alter Musik in Herne. Die mit internationalem Fachpublikum durchsetzte konzertante Aufführung in der Leipziger Nikolaikirche bringt jetzt hoffentlich den großen Durchbruch. Denn auch für die vergleichende Religionsforschung und Komparatistik ist Keisers Opernoratorium ein facettenreicher Mosaikstein. 270 Jahre war das Werk verschollen.
Die skandalisierende Wirkung des Werks, das in der späteren Fassung („Die durch den blutigen und sterbenden Jesus getröstete Tochter Zion“, Hamburg 1729) erklingt, ist in den Reaktionen auf die Uraufführung in der Hamburger Zuchthauskirche 1705 spürbar. Die szenische Darstellung unter Mitwirkung von Künstlern der Gänsemarkt-Oper war eine Sensation. Moniert wurde, dass wie bei einer kommerziellen Veranstaltung Programmhefte und Eintrittskarten verkauft wurden und der Brauch des freien Eintritts für die großen Sakralwerke der Karwoche beschnitten wurde.
Noch erstaunlicher sind der dramatische und musikalische Aufbau von Keisers Opus. Wie im sich nach 1700 verbreitenden italienischen Oratorientypus gibt es in „Der blutige und sterbende Jesus“ keinen Evangelisten oder anderen Erzähler, das Werk hat also rein dramatische Struktur. Menantes‘ Textbuch aus paraphrasierten Bibelstellen enthält erfundene Episoden wie das Wetteifern Marias und der Tochter Zion, einer kommentierenden Figur, die Jesu Leiden auf sich nehmen wollen. Die Vermutung liegt nahe, dass Menantes, der ein äußerst experimentierfreudiger Autor war, sich in seinen Texten für das protestantische Hamburg möglicherweise von der jesuitischen Dramatik der Gegenreformation inspirieren ließ.
Die Partitur zu „Der blutige und sterbende Jesus“ hat 79 Musiknummern. Vor allem gibt es keine Dacapo-Arien mit Gefühlsmonokulturen, sondern große mehrteilige, in Rezitative, Accompagnati, Ariosi und Arien gegliederte Soloszenen für die Hauptpartien. Die antithetisch eingeführten Apostel Petrus und Judas sind Tenöre. Ersterer hat nach der breit ausgeführten Verleugnung eine Bravourarie mit heroischen Koloraturen, dazu kontrastiert der Verräter in seiner analogen Soloszene mit eher syllabischer, im Moment der Reue auffallend lyrischer Charakterisierung. Opernhafte Antithetik in Reinkultur! Beim Tod Jesu verstummen im Orchester die Bass-Stimmen, „weil nach dem Tod Jesu das Fundament fehlt“ (Christine Blanken).
Jesus, von dem Keiser im ersten der beiden Teile stimmlicher Dauereinsatz fordert und der (wie in den barocken Passionsspieltexten) während der Verhöre und Foltern verstummt, ist eine dramatische Rolle mit ausgedehnten Anreden und sogar Ensemblesätzen, die Einblicke in das Fühlen des Heilands geben: Hier leidet wirklich der Menschensohn und ist (noch) nicht der überhöhte Solitär wie bei Bach oder ein stummer Protagonist wie in Pietro Metastasios vielvertontem Libretto „La passione di nostro signore Gesù Cristo“ (1730). Nach der Entdeckung von Keisers Opern ist man auch hier begeistert von der Substanz dieser Musik, ihrer dramatischen Flexibilität, ihrer textsynchronen Geschmeidigkeit und der Tendenz zu einer großflächigeren Werkarchitektur, in der oft mehrere Nummern unter einem großen Bogen stehen wie in dem langen Block von der Leidensankündigung bis zum Garten Gethsamene. Die dichte, abgestufte Instrumentation nimmt für Keiser ein, dessen Sujets wie „Fredegunda“ und „Masaniello furioso“ aus heutiger Perspektiver kontrastintensiver wirken als die Händels für seine italienischen Operngesellschaften oder Hasses für den Dresdner Hof. Dieses ambitionierte, revolutionäre Oratorienkonzept nimmt Keiser 1712 in der „Brockes-Passion“ allerdings zurück, indem er da den Part des Evangelisten vertont. Keiser milderte seinen radikalen Ansatz außerdem, indem er für eine Aufführung in Gotha 1719 Choräle einfügte, die dem Opus einen konventionellen sakralen Rahmen gaben.
Mit Dominik Wörner als sakralem Primo`uomo in der Titelrolle des Schmerzensmannes und überhaupt die gesamte Herrengruppe mit Hans Jörg Mammel (Judas), Mirko Ludwig (Petrus), Matthias Lutze (Kaiphas) und Oliver Luhn (Pilatus) verfügen über die gerundete Diktion und dabei pointierte Tongebung, die Keisers szenisch akzentuierte Musik erfordert. Anna Kellnhofer ist eine bewegend klare Muttergottes. Doch bei aller Stimmschönheit scheinen Monika Mauch und Anne Bierwirth, die beiden Töchter Zion, nicht wirklich viel mit ihrer Funktion anfangen zu können. Die radikale Konzeption der Urfassung mit der dortigen Beschränkung auf die Aktionschöre von Hohenpriestern, Kriegsknechten und Juden wird in dieser Aufführung, weil die später eingefügten Choräle erklingen, nicht deutlich.
Den dramatischen Momenten weicht Bernhard Klapprott meistens aus. Es bleibt bei einer wohlproportionierten, fast zu noblen und, vor allem im zweiten Teil, wo der wirkungssichere Opernkomponist Reinhard Keiser machtvoll das menschliche Drama aufreißt, wenig pulsierenden Wiedergabe. Bernhard Klapprott fürchtet sich offenbar vor „katholischer“ Emphase bei der Tochter Zion. Ebenso fürchtet er sich vor dem Zupacken beim sogar im Vergleich mit Bachs Passionen fortschrittlichen Jesus-Part. Schade, denn Dominik Wörner muss deshalb stimmlich auf einem windstillen Wasser wandeln, auf dem er ohne Reizungen des Orchesters, also für sich allein, Gefühle und Bewegungen aus den Noten holt. Hier hört man also doch nur Oratorium und vermisst etwas Gespür für Keisers erregende Dramatik, die sich auf der gleichen Höhe wie Telemanns dynamisches Operntheater bewegt. Dabei merkt man sogar am Spiel und Gesang von Cantus & Capella Thuringia, dass Keisers aktionsintensiver Kalvarienberg weniger aus dem Holz des Domes Hamburg, sondern der überaus agilen Oper am Gänsemarkt geschnitzt ist. Starker Applaus.