Peter P. Pachl rezensiert die Ersteinspielung von Egon Wellesz‘ Einakter „Die Opferung des Gefangenen“, die kürzlich bei Capriccio erschienen ist. In der Interpretation von Friedrich Cerha mit dem ORF-Radio-Symphonieorchester werde mehr als einmal deutlich, wie stark Wellesz‘ stringente Thematik in den Bläsern die Filmmusikkomponisten beeinflusst hat, insbesondere diverse Weltraum-Sagas, meint unser Rezensent.
Im jüngsten Band der Theaterjahrbuchs-Reihe „Die vierte Wand“ finden die Leser*innen einen Beitrag über den Dramatiker, Dichter, Romancier und Eduard Stucken (1865–1936), einen der im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts meist gespielten Dichter, dessen dramatisches Oeuvre insbesondere durch Max Reinhardt Förderung fand. Von besonderem Interesse ist Stuckens Einfluss auf die Musik: die Vertonungen von Franz Schreker bis Rainer Maria Klaas. Neben seiner Tätigkeit als Dichter beschäftigte sich der Erfolgs-Romancier („Die weißen Götter“ – in drei Bänden) erfolgreich mit Völkerkunde und mit religions- und sprachwissenschaftlichen Vergleichen.
Im Zuge seines Studiums der Geschichte Amerikas publizierte Stucken im Jahre 1913 unter dem Titel „Die Opferung des Gefangenen“ das vorkolumbianische Maya-Drama „Rabinal Achi“: Vor seiner zeremoniellen Hinrichtung wird der gefangene Prinz der Yaqui von Cunen und von Chahul von Ahau-Hobtuh, dem König der Rabinaliten gehöhnt, indem er alle Vorzüge seines reiches, inklusive derseiner Tochter U-Chung-Gug genießen soll.
Die auf dem „Tanzschauspiel der Indianer in Guatemala aus vorkolumbischer Zeit“ basierende Oper bezeichnet Stucken im Briefwechsel mit dem Komponisten Egon Wellesz als ihr gemeinsames „Kind“. Die als Partitur 1925 beendete Bühnen-Version war ein Jahr später in Köln uraufgeführt und dann in Magdeburg (im Rahmen der Deutschen Theater-Ausstellung) sowie in Berlin nachgespielt worden – bis durch den Nationalsozialismus auch die Komponistenkarriere von Egon Wellesz ihr Ende fand. (Ähnlich erging es der bereits ein Jahr früher fertiggestellten Vertonung dieses Stucken-Dramas durch Erwin Schulhoff – unter dem Titel „Xahoh-Tun“.)
Dass hier – im Rahmen dieser CD-Rezension – zunächst der Dichter in den Fokus genommen wird wird, ist als Reaktion darauf zu verstehen, dass die soeben erschienene CD-Ersteinspielung der „Opferung des Gefangenen“ den Dichter weder auf dem Cover noch auf der Besetzungsseite des Booklets nennt, ja nicht einmal vor oder nach dem kompletten Abdruck des Librettos. Einzig im lesenswerten Einführungstext von Hannes Heher bleibt der Dichter nicht unerwähnt.
Egon Wellesz‘ „kultisches Drama für Tanz, Sologesang und Chor op. 40“ erlebte die erste Wiederaufführung seit den Dreißigerjahren am 24. März 1995 im Wiener Konzerthaus, unter der musikalischen Leitung von Friedrich Cerha. Der Live-Mitschnitt des ORF wurde nunmehr bei Capriccio auf CD (C5423) veröffentlicht.
Bei der Wiederbegegnung hat Wellesz‘ frei tonale, verblüffend in F-Dur endende Komposition nichts an Faszination und Schlagkraft eingebüßt. Die Dramatik dieser Partitur gemahnt an Wellesz‘ Oper „Alkestis“ op. 35, die bei Aufführungen gerne mit dem Einakter „Die Opferung des Gefangenen“ gekoppelt wurde – so bei Uraufführung im Jahre 1926 unter der musikalischen Leitung von Richard Lert in Köln, wie auch 1930 an der Städtischen Oper Berlin unter Robert F. Denzler.
Neben seinen neun Symphonien sind die Schwerpunkte des Oeuvres von Egon Wellesz etwa gleichgewichtig zwischen Oper und Ballett verteilt. Eine Verbindung beider musikdramatischer Kunstformen bietet seine musikdramatische Bearbeitung des indianischen Dramas. Als Dirigent kehrt Friedrich Cerhas Lesart der knapp einstündigen Partitur eines Musikdramas mit Elementen des Tanztheaters, der Pantomine und des Oratoriums, verwandte Strukturen zu seinem Komponisten-Kollegen hervor.
In der großen Farbintensität der Tonsprache des kurzzeitigen Schönberg-Schülers imponiert dessen lineare Stimmführung. Und mehr als einmal wird deutlich, wie stark Wellesz‘ stringente Thematik in den Bläsern die Filmmusikkomponisten beeinflusst hat, insbesondere diverse Weltraum-Sagas.
In den drei exponierten Tanzszenen der Oper läuft das ORF-Radio-Symphonieorchester zu großer Form auf. Trefflich besetzt in der technisch gut eingefangenen, konzertanten Aufführung sind der Feldherr mit dem Heldenbariton Wolfgang Koch sowie der Schildträger des Prinzen mit dem Tenor Robert Brooks. Faszinierend in Stimmfülle und Textverständlichkeit gestaltet der Wiener Konzertchor mit den weiblichen Solostimmen von Hoe-Seung Hwang und Patricia Dewey; einige Abstriche gilt es hingegen bei Ivan Urbas‘ Interpretation des Ältesten des Rates zu machen.
Insgesamt gesehen eine wichtige Neuerscheinung.
Egon Wellesz: „Die Opferung des Gefangenen“
Cult Drama for Dancers, Soloists, Chorus and Orchestra, Op. 40
Wolfgang Koch, Wiener Konzertchor, ORF Vienna Radio Symphony Orchestra, Friedrich Cerha, Dirigent. Capriccio CD C5423