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 Foto: © Steffen Böttcher
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Rote Fäden im Kaleidoskop der Moderne – Festspiele Mecklenburg-Vorpommern

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„Pavillon der Jahrhunderte“ nennt sich ein neues Konzertformat, das das Klassik-Festival „Festspiele Mecklenburg-Vorpommern“ gemeinsam mit der Körber-Stiftung entwickelt und vor zwei Jahren mit dem Amtsantritt seines neuen Intendanten Dr. Markus Fein eingeführt hat, um jenseits der bloßen Steigerung des Glamourfaktors durch hochkarätige Musiker und kulinarische Mainstream-Programme neue Möglichkeiten der Nachhaltigkeit zu erproben.

Hybridveranstaltungen, in denen sich Musik, Wort und Bild in unterschiedlichen Formaten an mehreren aufeinanderfolgenden Tagen verbinden, meist an einem Ort, dem „Konzertgelände“ der Festspiele um Schloss Ulrichshusen, mit verschiedenen, fußläufig erreichbaren Spielstätten, dem Rittersaal im Schloss, der Remise und der großen Festspielscheune, gruppiert in der idyllischen Landschaft zwischen Mecklenburgischer Seenplatte und Mecklenburgischer Schweiz.

Ihre Zielstellung ist eine doppelte: Einerseits neue interaktive Formen der Entgegennahme von Musik, in denen die passive Frontalsituation des Publikums aufgebrochen wird, zu finden; andererseits das musikalische Erlebnis mit Bildung zu verbinden, nicht trocken belehrend, sondern kommunikativ und unterhaltsam und dennoch fachkundig, die sich besonders auf die gemeinsamen kulturellen und ästhetischen Horizonte von Zeitgeschichte, Musik und den anderen Künsten, insbesondere Malerei und Literatur, richtet.

„Wer mehr weiß, hört mehr“, meint Festspiel-Intendant Markus Fein. Solche Pavillons gab es in den vergangenen Jahren, unter lebhaftem Publikumszuspruch, zur Romantik und zur Wiener Klassik, zum Jahr 1808 und zur „Zukunft“, vornehmlich zu der des Konzertbetriebes.

Jetzt wagten die Festspiele innerhalb dieser Innovation eine weitere; an drei Tagen mit zehn Veranstaltungen – neben reinen Konzerten von Gesprächskonzerten und musikbegleiteten Vorträgen bis zu lesungsbegleiteten musikalischen Aufführungen, einem musikalischen Spaziergang oder zu einer öffentlichen Orchester-Anspielprobe – errichteten sie ihren wagemutigen „Pavillon Moderne“, in dessen Zentrum ausschließlich jene Neue Musik seit dem Anfang des vorigen Jahrhunderts stand, deren Beziehung zum Publikum immer noch fragil ist, weil sich in ihr die Verbindlichkeiten der bürgerlichen Kultur auflösen.

Damit wurde zugleich ein Bild der musikalischen Moderne gezeichnet, nicht streng systematisch oder musikhistorisch, sondern eher splittrig, aber mit einem Facettenreichtum, in dem die ungeheure Vielfalt, ihr Reichtum an eigenständigen Tonsprachen und Stilistiken, auch ihre Kuriositäten sich entfalteten.

So spannte sich ein Bogen von Schönberg und Strawinsky über Varèse und Hindemith, über Cage und Schostakowitsch bis zu Ligeti und Messiaen, in unterschiedlicher Gewichtung, die nicht nur den steilen Avantgardismus betonte. Und was da Wichtiges fehlte, Anton Webern etwa oder Béla Bartók, wurde im einleitenden Gesprächskonzert „Hörsplitter der Moderne“ mit dem vision string quartet und Markus Fein zumindest deutlich akzentuiert – in dem sich übrigens eindrucksvoll zeigte, wie produktiv es ist, wenn einer, der eine Sache organisiert, managt und vermarktet (Markus Fein als Intendant), von dieser Sache auch etwas versteht.

Und dann folgte der bunte Fächer der verschiedenartigsten Veranstaltungen, etwa die fulminante Aufführung von Strawinskys „Sacre“ vierhändig am Klavier durch die niederländischen Jung-Pianisten Lucas und Arthur Jussen, begleitet von einer Lesung aus „1913 — der Sommer des Jahrhunderts“ von Florian Illies, oder die Anleuchtung des Briefwechsels zwischen Schönberg und Kandinsky oder die virtuose Vorführung des dadaistischen Lautgedichtes „Ursonate“ des Merzkünstlers Kurt Schwitters durch die Stimmperfomerin Frauke Aulbert, oder die Beziehungen der modernen Musik zum frühen avantgardistischen Film bis hin zum entlastenden Jokus, mit dem das frantic percussion ensemble, bis zum Bauch im See stehend, eine Wasser-Percussion-Musik bot.

Rote Fäden im Kaleidoskop

Dennoch ließen sich in dieser kaleidoskopartigen Buntheit rote Fäden ausmachen: der eine, der das Krisenbewusstsein, den emphatischen Protest gegen die bestehende (musikalische) Welt und den Versuch ihrer Überschreitung markierte, der andere, der im Versuch im dabei entstandenen Trümmerhaufen neue Halte zu finden, zunächst nur bei Parodie und Persiflage verbleibt.

Beides verknüpfte sich in den Konzerten der prägenden musikalischen Protagonisten dieses Pavillons, des jungen, energisch aufstrebenden vision string quartet, und des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg unter seinem neuen Chef Kent Nagano (64).

Beim vision string quartet, mitreißende Musikanten, mit einer enormen Vehemenz in Spielweise und Ausdruck, mit der sie gelegentlich auch prunken, schon in ihrem ersten, dem Eröffnungskonzert „Eine Reise durch die Moderne“ in einer heiklen Zusammenstellung. Hier spielten sie, umstellt vom Streichquartett Nr. 1 (1948) von Alberto Ginastera, einer argentinischen Bartók-Variante, und den parodierenden „Fünf Stücken für Streichquartett“ (1923) von Erwin Schulhoff, eine erschütternde Gestaltung des Streichquartetts Nr. 8 c-Moll op. 110 (1960) von Schostakowitsch, das die ganze Last seiner Epoche, dieses Jahrhunderts der Katastrophen, trägt – und schlossen es – nach der leidigen und erfolgssicheren Cross-Over-Manier – ab mit allerdings fabelhaften Jazz-Arrangements (nach Goodman, Mingus und Gershwin). Womit sie einerseits ihre Cleverness bewiesen, ein Publikum am Nasenring zu führen, und andererseits zugleich kenntlich machten (wahrscheinlich ungewollt), auf welche Weise unsere Mainstream-Kultur durch hedonistische Entproblematisierung die Zumutungen der Moderne, die sie zuvor mit Schostakowitsch so eindrucksvoll gezeigt hatten, entsorgt.

Entsorgung der Zumutung

Auch Nagano verzichtete nicht auf dieses Wechselspiel, blieb aber delikater dabei und nicht nur aufs Amüsement gerichtet. Im „Kaleidoskop der Moderne“ führte er mit einer Kammerorchester-Abordnung der Hamburger Staatsphilharmonie einerseits Ligetis hintersinniges „Poème symphonique für Metronome“ oder Auszüge aus Strawinskys „Geschichte vom Soldaten“ auf, andererseits Hindemiths Kammermusik Nr. 1 op. 24, begleitet von Soloflöten-Stücken (Björn Westlund) von Debussy und Varèse, und schloss es mit der bedeutsamen Kammersinfonie Nr. 1 E-Dur op. 9 von Schönberg ab, so eindrucksvoll und strukturbewusst gestaltet, dass ihre einstige Provokation kaum noch spürbar war.

Nach einem Gespräch mit Dieter Rexroth über Olivier Messiaen, in dem Nagano eher Anekdotisches über seine Lehrzeit bei diesem mitteilte, setzte er mit seinem Orchester einen Abschluss, mit dem dieser spannungsvolle „Pavillon Moderne“ sich selbst übergipfelte. Ein clever genutzter Glücksfall kam zu Hilfe: Erst im Juli hatte John Neumeiers sinfonisches Ballett nach Messiaen „Turangalîla- Symphonie“ an der Hamburgischen Staatsoper, deren Orchester die Hamburger Staatsphilharmonie ist, Premiere gehabt. So war hier die Aufführung der monumentalen, sehr selten zu hörenden „Turangalîla- Symphonie“ (1948) (ohne zusätzliche Aufwände) möglich und bildete in jeder Hinsicht einen grandiosen Abschluss.

Grandios in der konzeptionellen Konsequenz, mit der das hier zuvor entworfene facettenreiche Bild der musikalischen Moderne mit diesem solitären Werk auf einen Punkt gebracht wurde. Programmatisch grandios, wie hier der Verlust der üblichen Verbindlichkeiten in der Musik seit dem Anfang des vorigen Jahrhunderts aufgehoben wird in einem neuen Mut zu Innerlichkeit, Spiritualität und Schönheit, in diesem Hymnus an die Freude und die Liebe –  die irdische wie die überirdische gleichermaßen und beide glühend. Grandios der apparative Aufwand: ein riesiges 95-köpfiges Orchester, allein mit 59 Streichern, dazu ein umfängliches Schlagwerkensemble, dazu hochvirtuose Klavierstrecken in irisierender Klanglichkeit, von der Koreanerin Yejin Gil mit höchster Präzision gespielt, und dazu die faszinierenden Klänge der Ondes Martenot (Nathalie Forget).

Grandios

Grandios nicht zuletzt die künstlerische Qualität der Aufführung unter Kent Nagano. Grandios die ausdifferenzierte Klanglichkeit, von machtvoller Opulenz bis zu verschwebender Zartheit. Grandios wie Nagano die fesselnde Spannung der zehn Sätze über 80 Minuten hielt, wie in einem unentwegten Kreisen, das nicht das Werden und Vergehen der Zeit, sondern ihr bloßes Sein sinnfällig machte. Grandios auch, wie er dabei durch gestalterische Delikatesse die Gefahr des grandiosen Kitsches umging.

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