„We saw a nice forrest“ sagte eine Zuschauerin, die eigens aus England angereist war, in typisch britischem, trocken-bitterem Humor. Tatsächlich ist in diesem „Siegfried“ kein Wald zu sehen. Er ist nur zu hören, im „Waldweben“ etwa. Keine Höhle, keine Felsen, kein loderndes Feuer, keine Schmiede auf der Bühne. Keine suggestiven Lichtstimmungen (Gleb Filshtinsky), zu schweigen von Romantik. Stattdessen die hinlänglich bekannten, sterilen Räumlichkeiten eines modernen in unserer Gegenwart angesiedelten Großklinikums, Tcherniakov nennt es „Forschungszentrum E.S.C.H.E.“
So wie Wotan in der "Walküre“ gegenüber Fricka bekennt, „In eig'ner Fessel fing ich mich“, hat sich Dmitri Tcherniakov schon in diesem vorletzten Teil seiner „Ring“-Neuinszenierung an der Berliner Staatsoper im eigenen Regiekonzept festgefahren, so scheint es. Er ist gefangen in seiner eigenen Dramaturgie. War man in der „Walküre“ noch neugierig und gespannt auf das weitere Fortschreiten seiner Inszenierung, so erweist sie sich jetzt als vollends absurdes Prokrustes-Bett einer Idee, die sich immer weiter von Wagner entfernt. Die Widersprüche zwischen Orchesterraunen, gesungenem Wort und dem, was man auf der Bühne sieht, werden immer größer und sind eigentlich nicht mehr akzeptabel.
Die Drehbühne und die fahrenden Kulissenwagen sind fortwährend im Einsatz. Man sieht wieder die seit dem „Rheingold“ hinlänglich bekannten Räume einer großangelten Psychiatrie, mal plastisch vor vorn, mal aufs nackte Gerippe destruiert von hinten. Das Zimmer mit der Esche, Konferenz- und Supervisionsräume, Labors und Beobachtungsgalerien, auf denen auch hin- und wieder die (noch stummen) Nornen auftreten, die erst in der „Götterdämmerung ihren großen Auftritt haben.
Hundings Apartment wird zum Legoland-Kinderzimmer Jung-Siegfrieds, der reichlich vorhandenes Spielzeug demoliert, blödelt und herumhampelt. Im Zentrum ein Schreibtisch, auf dem Siegfried aufgetürmtes Spielzeug anzündet und plötzlich sein Schwert wenig plausibel herbeizaubert. Von Schmieden kann nicht die Rede sein. Diese Szene ist gerade wegen des überwältigenden tenoralen Vortrags des Tenors in der Titelpartie (man versteht jedes Wort) geradezu absurd. Nicht dass man die martialischen Schmiedegesänge goutieren muss, aber so verunstaltet werden sie lächerlich. Vom „Drachen“- Kampf ganz zu schweigen.
Auch Brünnhildes ironisiertes Erwachen im Schlaflabor, in das sie Opa Wanderer hineinführt, aufs Krankenhausbett geleitet und mit silbrigem Tuch abdeckt, ist absurd. Die Fragwürdigkeit der Regie, die fortwährend Musik und gesungenes Wort Lügen straft, ist bei aller begrüßenswerten, weil unkonventionellen Personenführung evident. Überflüssig ist auch der filmische Video-Blick in ein Kinderzimmer mit verstört wirkenden Kindern. Überflüssig, ja abstrus sind die auf Monitoren zu lesenden Texte wie „Phase 5: Konfrontation mit Konflikt“, „Phase 2: Versenkung und Meditation“, „Phase 3: Suche nach dem Inneren Helfer“ oder „Phase 6: Realisierung eines inneren Wunsches“. Das sind, mit Verlaub gesagt, küchenpsychologische Lippenbekenntnisse einer Regie, die den Zuschauer entmündigen und sich auf der Bühne nicht wirklich einlösen. Jede tragische Fallhöhe des Stücks wird in dieser Inszenierung nivelliert, ja verzwergt, schließlich ad absurdum geführt.
Wie sagte eine andere der zahlreich angereisten wagneraffinen Engländerinnen: „it’s disgusting“, was so viel meint wie „empörend“, aber auch „widerlich“. Wie auch immer: Es ist fatal, wenn selbstherrliche Regisseure sich über das Werk erheben und allenfalls Kommentare zum Stück abliefern, anstatt das Stück an sich zu zeigen. Und es ist dumm, wenn sie den Zuschauer bevormunden und für dumm erklären.
Sängerisch ist dieser „Siegfried“ außerordentlich, ja großartig: Der sportlich kraftvolle, mit enormen Stimmreserven aufwartende Tenor Andreas Schager legt einen Siegfried hin, der als konkurrenzlos zu bezeichnen ist. In blauem Jogginganzug und schlechtem Pennäler-Benehmen singt und spielt er den Wagnerschen (gebrochenen, tragischen) Siegfried, als Mischung aus Kasperl, Held und proletenhaftem Gegenwartsmensch mühelos und höhensicher, strahlend und wortverständlich. Andreas Schager ist ein Ausnahmetenor, so wie Michael Volle ein Ausnahme-Heldenbariton ist. Er ist als Wanderer (in dieser Inszenierung allerdings eher wie ein verkommener opahafter Spaziergänger in Sandalen, mit Strickjacke, im Parka, mit Schiebermütze und Gehstock) grandios in Stimmkraft, Gesangsvortrag und Darstellung, trotz der Regie, die ihn zum saufenden Clochard macht.
Auch Mime (Stephan Rügamer) und Alberich (Johannes Martin Kränzle) sind in Tcherniakovs Inszenierung zu behinderten (wenn auch gut singenden) Opas mutiert, Fafner (Peter Rose) gar zum Rübezahl. Urmutter Erda (im blauen zweiteiligen Kleinbürgerkostüm), wird von Anna Kissjudit samtig und nobel gesungen. Überhaupt sind die Alltagskostüme von Elena Zaytseva) durchweg spießig. Die Brünnhilde von Anja Kampe (in schwarzen Leggings und grüner Bluse) muss das Pathos ihrer Rolle immer wieder ironisch brechen, ja karikieren. Am eklatantesten bei ihrem Erwachens-Sonnen-Gesang im dritten Akt. Anja Kampe singt fabelhaft, jugendlich hochdramatisch, wenn auch nicht ganz so überzeugend wie in der „Walküre“. Aber der „Siegfried“ ist nun mal eine besondere sängerische Herausforderung. Geradezu atemberaubend ist der Waldvogel in Gestalt der schwarzen Krankenschwester Victoria Randem. Diese exzellente Koloratursopranistin singt lupenrein und wortverständlich. Dass sie fortwährend mit einem kleinen Flattervögelchen spielen muss (auch Siegfried stimmt in dieses lächerlich kindische Spiel ein), beraubt sie jeder Glaubwürdigkeit.
An dieser Stelle kann ich mich der grundsätzlichen Bemerkung nicht enthalten, dass die Besetzung des Waldvogels mit einer Frauenstimme ein tradiertes Missverständnis ist, Wagner hat diese Partie nicht ohne Grund für einen Knabensopran geschrieben, wie man der Partitur entnehmen kann. Das macht auch Sinn, denn schließlich entdeckt Siegfried erst in der Begegnung mit Brünnhilde das Weibliche. Der Waldvogel darf strenggenommen, nichts eindeutig Weibliches haben, er hat (auch stimmlich) ein geschlechtsneutrales Naturwesen (ein Tier) zu sein. Leider hat man auch Unter den Linden nicht die Chance genutzt, mit dieser falschen Besetzungstradition zu brechen. Aber es sind ja so viele falsche Traditionen der Aufführungspraxis Wagners gang und gäbe.
Auch Christin Thielemann am Pult ist nicht der Dirigent, der (etwa wie Hartmut Haenchen) Wagners Notentext einer kritischen Überprüfung für Wert befindet. Gleichwohl hat er das Werk, das die Regie virtuos demontiert, musikalisch beglaubigt. Über weite Strecken hat er einen fulminanten „Siegfried“ dirigiert, klangprächtig, dramatisch-kraftvoll und in seiner beeindruckenden Polyphonie und fast freudianischen Leitmotivik transparent. Chapeau! So ist dieser Abend zumindest musikalisch, sängerisch ein Ereignis. Aber mit Bangen sieht man der „Götterdämmerung“ entgegen. „Weißt Du, wie das wird?“ singt die erste Norn zu Beginn der „Götterdämmerung“. Lassen wir uns überraschen.