Vor zwei Jahren bereits war beim Festival Ultraschall in Berlin jenes „Kammermusiktheater“ zu erleben, das ein Jahr zuvor, bei der Münchner Biennale 2014 seine Uraufführung erlebt hatte. „Sommertag“ von dem Donaueschingen-erprobten Arzt und Komponisten Nikolaus Brass basiert auf Jan Fosse, dessen Roman „Morgen und Abend“ als ein eindrucksstarkes Musiktheater von Georg Friedrich Haas im Vorjahr an der Deutschen Oper Berlin zu erleben war.
Beide Komponisten interessierte die Umsetzung von Fosses Sprachlosigkeit in Musik. Bei Brass ist es das Weiterspinnen von Vokalisen bis zur Komplettierung eines gesprochenen, respektive gesungenen Satzes. Die Instrumente sprechen aus, was die handelnden Personen offenbar nicht zu sagen vermögen.
Jon Fosses Original wirkt wie eine Mischung aus Ibsen und Beckett. Die Handlung ist dabei typisch nordisch, man kennt sie als Pendant aus Alfred Tennysons „Enoch Arden“, musikalisiert auch aus Strauss’ gleichnamigem Melodram oder – insbesondere im Einsatz des Akkordeons überstrapaziert – durch die ebenfalls gleichnamige Oper von Ottmar Gerster.
Bei Fosse geht es um eine Frau, die ihren depressiven Mann in einem Boot auf dem Fjord verloren hat. Das große Geheimnis, warum dieser immer wieder von ihr weggeht um alleine hinaus zu fahren, wird auch in der textlich selbst eingerichteten, in zwölf Szenen aufgeteilten Partitur von Nikolaus Brass nicht aufgelöst. Ansatz für Brass’ musikdramatische Interpretation dieser Handlung ist der Umgang mit Zeit. Für deren Verlauf wirft er seine Figuren in einen „Zeitstrudel“ mit drei verschiedenen Notationsformen: metrisch, relational und durch Zeitfenster synchronisiert. Bei letzterer folgen die Ausführenden einer auf Monitoren – und für den Zuschauer auch auf das klassizistische Eingangsportal der Neuen Werkstatt der Staatsoper projizierten – digitalen Stoppuhr.
Mit Einblendungen von Textzeilen orientiert sich die Regisseurin Eva-Maria Weiss an der Uraufführungsinszenierung von Christian Marten-Molnár, doch ist sie offenbar der Ansicht, dass diese Handlung, mit Aufspaltung der wartenden Frau in junge, mittlere und alte Frau, allein nicht zu tragen vermag. Daher beschreibt sie diesen Weg weiter, indem sie auch den verschwundenen Partner Asle verdreifacht – neben dem Original agieren ein Tänzer (Valentin Schmehl), der Sänger der Stimme, sowie der Spieler des Akkordeons. Der Sänger der Stimme (Bartosz Araszkiewicz) spielt in einer anderen Szene auch den Ehemann der ständig grinsenden Freundin der Frau (Natalia Skrycka) und begrapscht die junge, von ihrem Partner Verlassene (Sarah Aristidou). Das Doppelgängerspiel wird unterstützt von der Ausstatterin Lisa Fütterer, insbesondere durch die Occasión eines hässlichen Ockerstoffs: für die Frauen, mal als Kleid, mal als Bluse, kombiniert mit schwarzer Hose, mal als Pyjama-Jacke über den nackten Schenkeln, aber auch als Hemd des Kontrabassisten, dessen Spiel herausgehoben die alte Frau (Anne Schuldt) begleitet.
Zu den spannenden Momenten der Inszenierung gehört eine Verfolgungsjagd zwischen Tänzer und nachsetzender Frau über die mit schwarzer Plastikfolie verpackten Möbel und Utensilien in der Wohnung. Denn das Stichwort „Auszug“ nehmen Regisseurin und Ausstatterin als Grundimpuls für Aktion und Raum. Der ist, wie schon in der Uraufführungsinszenierung, auf drei Seiten von Publikumsreihen umgeben. In der rechten Ecke türmen sich verpackte Möbel, fast bis zur der Decke, obendrauf ist der Schlagzeuger integriert. Eine einsame Glühlampe schwankt wie das Boot Asles, später kommt auch Natriumdampf zu leuchtendem Einsatz. Gegen Ende des Opernabends dann noch einmal eine Reminiszenz von Asle und der Frau – mit einem langen Kuss, der sich zum Machtkampf des voneinander Wegschiebens, zu einem Akt der übertragen zu verstehenden Verdrängung entwickelt.
In der linken Ecke leitet Dirigent Max Renne (Bass-)Klarinette, Violine, Viola und Kontrabass sowie Akkordeon. Doch wird er diesmal nur selten für die Sänger_innen auf die Monitore übertragen, da diese hier auch szenische Funktion haben, die Vervielfachung eines Fensters des Originalraumes. Manchmal werden die Texte der Freundin eingespielt, wobei deren starker Akzent dann noch deutlicher zu Buche schlägt als in der Live-Darbietung.
Zu den nachhaltig starken Momenten der Komposition gehört ein Duett zwischen Asle (Matthew Peña) und der von ihm abgespaltenen Bassstimme in Counterlage. Originell die als exterritorial umschriebene Situation, wenn die junge Frau Klopfgeräusche des Schlagwerks aufnimmt, ihrerseits auf einen der Umzugskartons klopft.
Arg lang geraten ist hingegen das Spiel der Soloviola bei der Peripathie der in Bogenform gebauten Partitur: per Projektion wird ein spätes „Intermezzo“ angekündigt. Dafür verlässt die Solistin ihren angestammten Platz und exerziert aus dem Off hinter dem Portal, virtuos, teils mit Doppelgriffen und Flageoletttönen , während die Frau mittleren Alters (Olivia Stahn) Pizza aus einem Karton verzehrt. Da es sich nicht um die Kunstform einer Gourmetoper handelt, bekam das Publikum nichts dergleichen. Aber zu diesem Zeitpunkt war auch erst eine Stunde der neunzigminütigen Komposition verstrichen.
Szenisch bedarf Brass’ Kammeroper eines stringenteren Zugriffs, will sie denn mehr erzählen als nur den Beweis zu erbringen, wie langsam bisweilen die Zeit vergehen kann.
Die nach Aussage eines Psychologen kompositorisch trefflich eingefangene psychische Situation der Vereinsamung wird von den Mitgliedern der Staatskapelle exquisit umgesetzt, wohingegen die Neuen Vocalsolisten Stuttgart der intendierten, geradezu selbstverständlich wirkenden sängerischen Umsetzung in der Uraufführungsproduktion offenbar näher kamen als nunmehr die Solisti_innen der Staatsoper.
Das Premierenpublikum zollte allen Beteiligten, inklusive dem anwesenden Komponisten, einen mehr pflichtschuldigen als begeisterten Applaus.
- Weitere Aufführungen: 13., 16., 21., 23. Februar, 1. und 3. März 2018.