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Caspar Krieger (Schmidt, Freund des Amtmanns),Kinderchor des Staatstheaters am Gärtnerplatz. Foto: © Jean-Marc Turmes
Caspar Krieger (Schmidt, Freund des Amtmanns),Kinderchor des Staatstheaters am Gärtnerplatz. Foto: © Jean-Marc Turmes
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Sturm und Drang: Massenets „Werther“ am Münchner Gärtnerplatztheater

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Vor genau vierzig Jahren feierte man im Münchner Nationaltheater Sternstunden einer Reprise von Kurt Horres' „Werther“-Inszenierung. Damals gaben Neil Shicoff die Titelpartie, Brigitte Fassbaender die Charlotte und Michel Plasson verpasste dem Bayerischen Staatsorchester einen stilistischen Denkzettel darüber, wie man Pathos und Detailgenauigkeit zur erotisch-lyrischen Synthese bringt. Heute weiß man durch die Massenet-, Meyerbeer- und Messager-Renaissance mehr. So hörte man in der Premiere des Münchner Gärtnerplatztheaters unter Chefdirigent Anthony Bramall kein Massenet oft unterstelltes Säuseldrama, sondern eine faszinierende Psychostudie in Tönen.

Wie Tschaikowskis „Eugen Onegin“ wird Jules Massenets „Werther“ umso schöner, je mehr eine Aufführung schmerzt. Denn zu den grundlegenden Wirkungskategorien von Oper im 19. Jahrhundert gehört die Empathie und Anteilnahme für von den Konventionen und Moralmaximen der bürgerlichen Gesellschaft verworfenen Figuren und Konstellationen. Das gilt für Massenets „Werther“ wie für Verdis „La traviata“. In der Gärtnerplatz- Premiere von Massenets 1892 in deutscher Sprache an der Wiener Hofoper uraufgeführten, aber auf den französischen Text von Édouard Blau, Paul Milliet und Georges Hartmann komponierten Drame lyrique konnte man das wenigstens im ersten Bild sehen, in erster Linie aber berückend und verzückt hören.

Premieren-Sieger ist das Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz unter seinem Chefdirigent Anthony Bramall. Hier klingt alles in einer faszinierend weit dimensionierten Musiksprache, die mit einem kreativen Bein schon ins frühe 20. Jahrhundert will. Wie der Titelheld von Goethes größtem literarischem Erfolg „Die Leiden des jungen Werthers“ bleibt Massenets komplexer Titelpart in einem Offenbachs Hoffmann vergleichbaren Marathon nur allzu konsequent auf der manisch-depressiven Lebensbahn – bis zum Freitod durch Brustschuss. In Goethes epochalem Briefroman sind alle anderen Figuren Projektionsobjekte, sogar die von Werther ohne Gegenliebe vergötterte Charlotte und der in die Oper nicht übernommene liebeskranke Irre. Man hört – das ist selten – auch neben Charlottes Tränenarie alles, was Massenet mit dem Saxophon anstellt, wie Klarinette und Cello ihre wollüstigen Rosenkriege austragen und wie komplex Massenets melodische Einfälle tatsächlich sind.

Es ist große Klasse, wie Bramall das ermöglicht und an wenigen Stellen desto offensiver die Extreme sucht. Spannend auch, wie Sophie Rennert als Charlotte vor der Pause in den Vokallinien schlicht bleibt. Erst allmählich und damit kongruent zu Massenets Spannungslinie spiegelt sie das Malheur der verheirateten Frau auf emotionalen Eheabwegen in Tönen. Ab der Briefszene, zur erotischen Überwältigung und bei Werthers Selbstmord meißelt, modelliert und schärft sie fast jeden Ton anders.

„Werther“ ist für den eigentlich im lyrischen italienischen Fach fokussierten Lucian Krasznec derzeitig noch an der Grenze des Machbaren. So polarisiert sich Krasznecs persönlichkeitsstarke Gestaltung in zwei Extreme: Einerseits punktet er in der Deklamation mit psychologischem Feinschliff und im sanften Melos mit trefflich gesteuerter Souveränität. Wenn es dann an die ganz großen und laut sein müssenden Aufschwünge geht, siegt Krasznec mit einer zwar schlank bleibenden, aber auch minimal starren Tongebung, welche die sich im Emotionalen verbeißenden Obsessionen Werthers packend verdeutlicht.

Etwas darunter rangieren Ilia Staple als die Werther umwerbende Schwester Charlottes und der durch die Regie aufgewertete Bieder-Ehemann Albert von Daniel Gutmann. Gerade diese Partien hätten auch zur musikalischen Differenzierung mehr Futter von der Regie benötigt. In Hinblick auf psychische Mehrdeutigkeit nimmt es Massenet bei entsprechender szenischer Gangart locker mit Ibsen auf.

Herbert Föttinger belässt es aber bei Andeutungen und verrutscht den Geist der Goethezeit in eine etwas nebulöse erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Bilder an den Wänden künden in Walter Vogelweiders Bühnenbild von Naturliebe und der Suche nach menschlicher Emotionalität. Statt sechs sind es neun Amtmannskinder, als welche der Gärtnerplatztheater-Kinderchor nach Beobachtung eines Muttersprachlers an diesem Abend die beste französische Diktion liefert. Dank Alfred Mayerhofer trägt Charlotte auch Schlaghosen. Alberts Gefühle bleiben unter seinen Hüten, die ihm Schatten ins Gesicht legen. Und Werthers hautfarbene Textilien signalisieren eine gläserne Psyche.

Am besten gelingt Herbert Föttinger das Widerspiel zwischen sozialem Ambiente und der sich entwickelnden, durchaus sinnlichen Seelenverwandtschaft Charlottes und Werthers. Aber im an Herz und Nieren gehenden Finale rennt Charlotte mit plakativem Pathos mehrfach zum schwarzen Wandtelefon. Dadurch entgeht ihr, wie Werther in vokaler Schönheit und faszinierend langsam stirbt. Dafür gab es im dritten Bild unter grellen Scheinwerfern Ansätze von sexuellen Handlungen zwischen Charlotte und Werther mit Beifall des enthusiasmierten Publikums. Sturm und Drang sehr frei nach Goethe, aber in plastischer Nähe zu Massenet.

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