„Ein Berlin-Abend“ untertitelt die Komische Oper das bereits vor zwei Spielzeiten angekündigte, dann aber verschobene und nun endlich realisierte Kammerstück mit Liedern aus den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Dabei sind es nicht nur populäre Nummern verfemter Komponisten, sondern auch solcher, die sich mit dem NS-Regime arrangiert haben, durch Brecht-Lieder von Hanns Eisler konterkariert oder zu „dadaistisch-eskapistische(n) Nummern“ hochstilisiert, etwa im Bemühen, aus den Texten von Bruno Balz als dem von der Gestapo verfolgten homosexuellen Dichter der Lieder für Zarah Leander, versteckte politische Aussagen zu entlocken.
Letztlich habe bei der Auswahl, die offenbar auch mit enormen (aufführungs-)rechtlichen Problemen zu kämpfen hatte, die „künstlerische Qualität“ den Ausschlag gegeben, welche – und da muss man den Verantwortlichen von Berlins schwungvollstem Opernhaus recht geben – letztendlich die geschichtliche Dimension überdauern werden.
Die vom musikalischen Leiter Adam Benzwi gemeinsam mit Star-Mezzosopran Anne Sofie von Otter gewählte Melange wird von acht Instrumentalsolisten der Komischen Oper begleitet. Bolero, Tango und Foxtrott werden exerziert von Violine (elektroakustisch verstärkt), Violoncello und Kontrabass, Klarinette, Trompete, Bassposaune, Schlagwerk, Gitarre (alternierend mit Mandoline und Banjo) als Popmusik der Dreißigerjahre – rund um den Flügel, den der Bearbeiter und musikalische Leiter Adam Benzwi teils beschwingt mitreißend, teils nachdenklich in Anschlag bringt.
Neben Evergreens, zum Teil auch mit nur instrumental vorgetragenen Gesangsnummern aus Filmen (wie „Kann denn Liebe Sünde sein“ von Lothar Brühne, 1928), gab es durchaus selten zu Hörendes zu erleben, etwa Hanns Eislers „Lied vom Förster und der schönen Gattin“ als Einlage zu Brechts „Herr Puntila und sein Knecht Matti“, das die Sängerin Anne Sofie von Otter und der Schauspieler Wolfram Koch, inklusive zweistimmiger Duettstelle, als Kunstlied gemeinsam gelungen zum Vortrag brachten.
Auf der um den zugedeckten Orchestergraben erweiterten Vorbühne häufen sich – unter und auf einem langen Requisitentisch – zahllose Utensilien, vom Schallplattentrichter übers Segelschiff-Modell, die dann gar nicht benötigt werden – oder eine Schaumtorte., deren naheliegender, filmerprobter Einsatz hier unterbleibt. Auch von der zentralen Kleiderstange kommt nur ein geringer Teil an Kostümen zum Einsatz, obgleich die beiden Protagonisten ihr Outfit häufig wechseln; und das Pailletten-Top trägt Anne Sofie von Otter nur auf der Titelseite des Programmhefts (Kostüme: Katrin Kath).
Der „Tatort“-Kommissar Wolfram Koch ist durch Herbert Fritsch an der Volksbühne nonsens-erfahren. Auch auf high heels, in einer Travestie-Nummer (Arthur Gutmanns „Im Liebesfalle – Tralalala“, 1923), macht er eine gute Figur. Erstaunlich ist Kochs stimmlicher Einsatz neben der mnemotechnischen Leistung im gelispelten „Suschen“ (Otto Reutter, 1927). Gleichwohl bleibt das szenische Arrangement – etwa auf einem Kinderstühlchen als Badewannen-Kapitän (Otto Berco, 1937) oder mit einem großen Tintenfisch (Günter Neumanns „Ach, wie schön, man sinkt immer tiefer“, 1937) – oft fragwürdig.
Wenig qualitätsvoll geraten die sprachlichen Witze dieses Abends, die sich auf bewusste Falsch-Ansagen des Schauspielers beschränken, etwa mit der gezielten Verwechslung von Staats- und Komischer Oper oder der Ankündigung der Solistin als Anne-Sophie Mutter, wobei seine Partnerin nach dem korrigierten „Otter“ dann auch noch das „von“ einfordert.
Ja, die Gräfin! Die an diesem Haus auch als alte Frau in der Bernstein-Inszenierung „Candide“ zu erlebende schwedische Mezzosopranistin ist noch im Besitz ihrer stimmlichen Möglichkeiten und spielt diese zwischen angeborener Tiefe (Richard Heymanns „Die Kälte“ 1921-23) und exzentrischer, sauberer Höhe sattsam aus.
Trefflich rezitiert sie, ganz ohne Begleitung, Erich Kästners Gedicht „Sozusagen in der Fremde“, nahtlos in den Gesang von Michael Jarys „Der Onkel Jonathan“ (1938) übergehend, wozu Koch hinter einer selbst gehaltenen Umkleidekabinentür den Spanner mimt.
Der fragwürdige Erfolgsschlager des verhinderten Opernkomponisten Norbert Schultze, „Lili Marleen“ (1937), dessen fragwürdige Wirkung wohl keiner so auf den Punkt gebracht hat wie Rainer Werner Fassbinder in seinem gleichnamigen Film, fehlt nicht im Programm. Wolfram Koch interpretiert den Schlager, neben Adam Benzwi am Flügel sitzend, indem er nur den Refrain singt, während er die Strophentexte, etwas gegen den Strich gebürstet, melodramatisch rezitiert.
Mit violettem Zylinder, mehr lesbischer Vamp denn Gigolo, singt von Otter die in den letzten Jahren durch MeToo aus political correctness nicht länger für aufführbar erachtete Erfolgsnummer aus Franz Léhars Operette „Paganini“, „Gern hab’ ich die Frau’n geküsst und nie gefragt, ob es gestattet ist“; Wolfram Koch umfächelt sie dazu mit Reiherfedern.
Zu dem einzigen, beim aufmerksamen Zuhören nahegehenden Song, „Ein Koffer spricht“ (Norbert Glanzberg, 1942-44) – als einem der vielen, nach dem Mord an ihren jüdischen Inhabern übrig gebliebenen Gepäckstücke – erklingt in der Orchestrierung von Daniel Busch mit singender Säge und spannt durch den Gebrauch dieses Modeinstruments im frühen 20. Jahrhundert den Bogen zu Opern von Franz Schreker.
Als vorletzte Nummer dann das titelgebende „Ich wollt’, ich wär’ ein Huhn“ von Peter Kreuder, aus dem Film „Glückskinder“ (1936), das die beiden Protagonisten abwechselnd sprechen und dann aufgeteilt singen, wobei Wolfram Koch mal im Sprung auf dem Flügel hüpft und die von Otter droht, das Plastiksuppenhuhn ins Publikum zu werfen. An musikalischer Verve lässt sich das dann nur noch durch „Musik! Musik! Musik!“ vom gleichen Komponisten steigern.
Mit Ende des offiziellen Programms sind eine Stunde und 20 Minuten verstrichen, und so gibt die Gräfin – nach einem Schluck aus der Wasserflasche – noch Kurt Weills „Je ne t’aime pas“ zum Besten, gefolgt von Koch mit dem von Zarah Leander interpretierten „Merci mon ami, es war wundervoll, es war ja so schön“ (Fényes), in das auch die schwedische Mezzosopranistin mit einstimmt und kopfnickend unerstreicht: „Wir müssen uns wiedersehn!“
Beim uneingeschränkten Beifall das Premierenpublikums zeigte sich der verantwortliche Regisseur nicht auf der Bühne. Barrie Kosky hat erst eine Woche zuvor an der Frankfurter Oper eine viel beachtete „Salome“ inszeniert; möglicherweise war er selbst mit dem Ergebnis der szenischen Umsetzung des „Berlin-Abends“ nicht ganz zufrieden, zumal die von Otter sich, mikroport-verstärkt vergeblich bemühte, ihn auf die Bühne zu rufen.
Wie lässt sich dieser Abend einstufen? Mit den von ihm selbst begleiteten Weill-Liedern hat Kosky für dieses Zwischen-Genre die Latte selbst sehr hoch gelegt; und auch Adam Benzwi spielt nun bisweilen solo aus völliger Dunkelheit. Ansonsten wird hier mehr Bühnenzauber evoziert als beim Weill-Abend, mit roter Linestraröhre vor dem roten Hauptvorhang, neben dramaturgisch differenzierten Spots. Als Zwei-Personen-Abend bleibt das Ergebnis gleichwohl weit hinter der alljährlich zurecht als Dauerbrenner gefeierten, ebenfalls nur auf der Vorbühne spielenden Oscar-Straus-Operette „Eine Frau, die weiß, was sie will“ weit zurück.
- Weitere Aufführungen: 8. und 20. März 2020.