Zur Saisoneröffnung im Festspielhaus Baden-Baden setzte der neue Intendant Benedikt Stampa Christoph Willibald Glucks „Orphée et Eurydice“ in der Pariser Fassung aufs Programm, in einer bereits anderenorts gespielten Inszenierung des Choreographen John Neumeier. Georg Rudiger ist nicht begeistert:
Wenn Choreographen Opern inszenieren, dann kann es spannend und innovativ werden, wie man an Arbeiten von Sasha Waltz oder Sidi Larbi Cherkaoui sehen kann. Warum Benedikt Stampa, der neue Intendant des Festspielhauses Baden-Baden, für die Saisoneröffnung die erste Opernregiearbeit von John Neumeier ausgewählt hat, die bereits 2017 an der Lyric Opera of Chicago herauskam und im Februar schon an der Hamburger Staatsoper zu sehen war, erschließt sich allerdings nicht.
Seine in Baden-Baden wieder aufgewärmte szenische Version von Christoph Willibald Glucks „Orphée et Eurydice“ in der Pariser Fassung bietet zwar viel Atmosphäre, ästhetische Bewegungen und eine fast durchlaufende Choreographie, aber sie vermag es nicht, das Geschehen zu verdichten oder einen besonderen Akzent zu setzen. Auch den Chor verschenkt Neumeier theatralisch, indem er das sehr differenzierte klingende Vocalensemble Rastatt im Orchestergraben platziert. Dort sorgt es gemeinsam mit dem Freiburger Barockorchester unter Alessandro De Marchi für eine federnde, tänzerische, auch mal sich dramatisch zuspitzende Interpretation von Glucks Reformoper, die weitgehend auf Virtuosität verzichtet und große musikalische Zusammenhänge spinnt. Die Extreme wünschte man sich allerdings noch plastischer gezeichnet. Die erste Oboe klingt seltsam spröde.
Um den vielen Tänzen eine Rechtfertigung zu geben, hat John Neumeier eine Rahmengeschichte installiert. Orphée ist bei ihm selbst Choreograph, der zu Beginn der Oper sein neues Ballett „Die Toteninsel“ nach dem Gemälde von Arnold Böcklin probt. Seine Primaballerina und Ehefrau Eurydice kommt zu spät und wird von ihm ruppig behandelt. Sie verlässt genervt den Schauplatz, setzt sich ins Auto und fährt mit einem großen Rums gegen einen Baum. Dann ist sie tot – und Orphée kann sie in der Unterwelt besuchen.
Hier schafft John Neumeier, der auch für die Bühne, die Kostüme und das Licht verantwortlich ist, eindrückliche Momente, wenn die Furien ihre Hände durch die Spiegelwände strecken, bevor dann drei glitzernde Zerberusse (Aleix Martínez, Lizhong Wang, Marcelino Libao) aktiv werden und gemeinsam mit den anderen Tänzerinnen und Tänzern Orphée bedrängen. Die Streicher des Freiburger Barockorchesters spielen mit hohem Geräuschanteil, die Posaunen verbreiten Schrecken. Und das Vocalensemble Rastatt wird zum mächtigen Chor der Furien.
John Neumeier bebildert die Musik mehr, als dass er sie inszeniert. Er zeigt Paare in verschiedenen Formationen. Die Assoziationen bleiben vage und auch beliebig. Nur das Tanzpaar Orphée (Edvin Revazov) und Eurydice (Anna Laudere) bietet eine zweite Ebene, wenn die Erinnerungen an die eigene Hochzeit hier Gestalt gewinnen oder am Ende im Tanz der beiden ein wenig Hoffnung bleibt.
Dmitry Korchak versieht die hoch liegende Tenorpartie von Orphée mit reichlich Vibrato, was angesichts des auf alten Instrumenten spielenden Orchesters seltsam anachronistisch wirkt. Mit seiner durchweg nasalen Tongebung und den wenigen Farben bleibt dieser Orpheus blass. Marie-Sophie Pollak (L’Amour), die Neumeier szenisch als Assistent des Choreographen einführt, steigt mit ihrem hellen Sopran intonatorisch immer wieder eine Spur zu hoch. Arianna Venditelli ist eine ganz lyrische Eurydice.
Am Ende zum Divertissement, das die Oper mit einer Reihe von Tänzen schließen lässt, ist die gesamte Kompanie des Hamburg Balletts involviert. Orpheé hat seine neue Choreographie fertig. Und betrachtet wohlwollend die ästhetischen Figuren seiner Tanztruppe.