Wieder einmal hat die Nürnberger Pocket Opera für ihre Neuproduktion einen gänzlich neuen Spielort für sich entdeckt: im chicen Nordostpark steht ein altes Heizkraftwerk mit neun hohen Fensterfronten und zwei schmalen Innenstegen an den fensterlosen Seiten. Ansprechend beleuchtet, ist der Hauptraum des Gebäudes zugleich Spielfläche und Auditorium. Die Zuschauer sind auf dreh- und fahrbaren Bürostühlen platziert, im Rücken spielt das Orchester, und auf eine freie Seitenwand wird projiziert, davor angesiedelt ist ein rosenblätterbestreutes Geviert mit Sessel und Stepper als eine weitere Handlungsebene.
Denn wieder einmal collagiert POC mehrere, differenzierende Werkbereiche aus unterschiedlichen Jahrhunderten: Stefano Landis dreiaktige Oper „Il Sant’ Alessio“ (1631), Franz Schuberts „Winterreise“ (1827), Lumieres Filmaufnahme von Loïe Fullers „Danse Serpentine“ (1896) und Allen Ginsbergs „Howl“ (1955).
Drei venezianische Masken senden vom Hauptsteg Seifenblasen in Richtung Publikum und bedauern mit Wehklagen deren Zerplatzen. Dann beginnt die Opernhandlung vom jungen Alessio, der bis zu seinem Tod im Treppenhaus seiner Eltern unerkannt und unbemerkt lebte.
Inmitten der Weinenden, auf einem Berg von Müllsäcken oder in schwindelnder Höhe des zweiten Gitterrost-Steges, rezitiert die Münchner Schauspielerin Viola von der Burg eindrucksvoll die rhythmische Prosa von Allen Ginsberg aus der Zeit der Beatniks, sein damals als obszön verschrienes „Geheul“. Das Kostüm der Schauspielerin gehört zu den raffiniertesten Schöpfungen dieses Abends, eine Stadtstreicherin, gemischt aus höchst differierenden Teilen (Ausstattung: Evelyn Straulino), gesteigert zu einem indianischen Priesterinnengewand, – denn Ginsbergs Gedicht über Elend und Vereinsamung mündet in einen hymnisch-optimistischen Schluss, alles sei heilig. Ein biedermeierlich kostümierter Wanderer auf der Stelle seines Zimmers (Klaus Meile) rezitiert Gedichte von Wilhelm Müller, die Schubert durch die „Winterreise“ unsterblich gemacht hat.
Dramatisch kernig, mit klarer Höhe, singt Eva Marie-Pausch die Braut des Alessio, kraftvoll und sauber führt Katharina Heiligtag (als Roma und Curtio) ihren Mezzo, und Robert Eller leiht dem Dämon profunde Bass-Töne. Zum sehr homogenen vokalen Klangbild tragen auch der kraftvolle Counter Johannes Reichert als Martio, Gertrud Demmler-Schwab als Alessios Mutter und Christopher Kessner als Amme bei.
Nicht immer rhythmisch korrekt, aber mit schön geführtem, tragfähigem Tenor gestaltet Florian Neubauer die Titelfigur des Alessio als Aussteiger, der kurz vor Ende der Opernhandlung auch das Schubert-Lied über die zwei „Nebensonnen“ singen darf, wozu die zuvor jeweils zu Schubert eingesetzte Film-Projektion der Tänzerin Loïe Fuller optisch verdreifacht wird.
Szenisch führt Regisseur Thomas Herr das Sextett mit Minimalaktionen. Laken werden zu Rettungsseilen verknotet und Koffer gepackt. Aus dem Tanztheater übernommen sind permanent repetierte Bewegungen der handelnden Figuren als deren Ticks und schwerere Schäden. Auf rot erleuchteter Glasscheibe treffen sich im zweiten Teil des dreistündigen Abends die Outlaws, Alessio – nun mit elchköpfigem Wanderstab –, die Stadtstreicherin und der Wanderer.
Vom Libretto der Oper, aus der Feder des späteren Papstes Clemens IX., vermittelt sich an diesem Abend nicht all zu viel. Am Ende greift Herrs akribische Inszenierung das Motiv der Seifenblasen-Produktion wieder auf –ein Bild der – Stefano Landi und Giulio Rospiglioso gemäß christlich konnotierten – Vergänglichkeit.
Um so überdauernder, überraschend lebendig, ist die Musik, mit reinen Orchesterpassagen, trefflichen Arien, Terzetten und Ensembles, gipfelnd im Hochgesang „Felice Roma“. Den eigentlichen Kick bekommt die deutsche Erstaufführung von Landis Partitur durch ihren Bearbeiter Franz Killer, der auch der musikalische Leiter der Aufführung ist. Killers Orchestrierung mit Harfe, Cello und Kontrabass, Keyboard-Cembalo, Marimba-, Vibra- und vier Saxophonen, sowie Crotales und Obu, überaus süffig und sinnlich arrangiert, schlägt den Bogen zur Gegenwart und integriert auch freie, jaulende Echos.
Einen hohen Stellenwert besitzt Killers Orchestrierung auch bei den Schubert-Liedern; hier erfolgt bewusst die Zweiteilung in Text und Komposition, denn nach der Rezitation der Lyrik interpretiert das Orchester Schuberts Lieder als Orchesterstücke ohne Worte. Beim „Lindenbaum“ zeichnet das Vibraphon das Rauschen der Zweige.
Das Publikum, welches trotz seiner mobilen Stühle seine Position kaum verändert hat, dankt nach dem knapp dreistündigen Abend im herbstlich kühlen Heizwerk mit warmem Applaus.
Weitere Aufführungen: 14., 15., 20., 21. Oktober 2011.