Stings „The Last Ship“ behandelt ein großes Thema, ein existentielles für die Waterkant. Es geht um die kriselnde Tradition des Schiffbaus und wird von Gordon Matthew Thomas Sumner, der sich Sting nennt, mit autobiografischen Elementen verflochten. Der vielstilistische Musiker, Komponist und Schauspieler fügt zudem zwei Liebesgeschichten mit divergentem Ende hinzu, würzt sein sozialkritisches Anliegen mit allerlei kraftvollen Typen, oft mit Bezug zu sich selbst, und mischt alles mit viel Lokalkolorit in Sprache und Musik. Ist der Mix in einem Musical verdaulich?
Sting meinte ja, musste aber 2014 nach der Uraufführung am Brodway erfahren, dass dem nicht so ist. Der Erfolg blieb nur solange, wie er als Akteur mithielt. Das macht nachdenklich.
Nach fünf Jahren wurde hierzulande ein neuer Versuch gestartet. Die deutsche Erstaufführung des Musicals leistete sich Koblenz, eine Stadt, die wenig nach Salz- oder Meereswasser riecht. Die Kritik (zum Beispiel die von Andreas Hauff in nmz-online am 20.07.2021) berichtete dennoch von einem beeindruckenden Stapellauf. Nach etwa einem halben Jahr legte Lübeck mit der zweiten Inszenierung nach (Premiere: 11. Februar 2022), diesmal also dort, wo Hunderte von Jahren Schiffe gebaut wurden. Und wieder war das Publikum begeistert.
Desaster
Die Schiffbautradition überstand im Norden nicht nur die lange Zeit der Koggen, die der Hanse einst Macht und Reichtum brachten. Es gab in Lübeck auch eine beachtliche Tradition der Seeriesen mit Stahlkörpern, ähnlich der, die Sting in seinem Musical mit der „Utopia“ zu Ende gehen lässt. In Lübeck war das letzte Schiff der Flender-Werft die „Norröna“. Trotz einiger Havarien fährt sie immer noch in Nordseegewässern, zwischen Färöer, Dänemark und Island. Von großem Erfolg zeugt sie und wurde dennoch ein melancholischer Schlusspunkt. 2002 war das, also erst vor zwei Jahrzehnten. Das Aus wurde für rund 800 Mitarbeiter ein großes Problem, wie in diesen Tagen an der Ostseeküste Mecklenburg-Vorpommerns ein anderer Schiffbau zum Problemfall geworden ist, diesmal für 1.900 Beteiligte. Der Gigantismus, das weltgrößte Kreuzfahrtschiff für 9.500 (!) Passagiere zu bauen zuzüglich 2.500 Menschen zu vielerlei Bedienung, hat bisher nur eines erbracht, einen der „Utopia“ ähnlichen unfertigen Ozeanriesen. Noch ist kein Käufer in Sicht. Wie Hohn muss den Betroffenen der Schiffsname „Global Dream“ klingen. Sollten sie dem Musical folgen, das empfiehlt, die Sache selbst zu regeln?
Text
Das machte Stings Musical aktuell. Schiffbau ist kein Kinderspiel, es darzustellen allerdings auch nicht. Das vermag der Hinweis zu belegen, dass Sting immerhin zwei Autoren für das originale Buch benötigte, John Logan und Brian Yorkey. Die Texte mit der Musik hatte er allein geschaffen. Jetzt war noch ein „neues“ Libretto entstanden, eines von Lorne Campbell. Viel Arbeit musste auch Wolfgang Adenberg investieren, alles zu übersetzen. Sogar einen Teil der Texte von Sting überführte er ins Deutsche, nicht immer ganz glücklich, zumal häufig zwischen den Sprachen gewechselt wird. Andere Texte wurden zum Nachlesen im Programmheft mitsamt der deutschen Übertragung abgedruckt. Das Deutsch dort trifft ebenfalls nicht immer den Ton der Vorlage. Die Prosa der Dialogtexte zwischen den Musikeinlagen wirkt dagegen im Angesicht der zahlreichen Existenzängste wie eine groteske Märchenerzählung, manchmal auch wie mit Sätzen aus einer religiösen oder philosophischen Abhandlung. Man konstatiert für sich, dass ein auf Unterhaltung zielendes Musical doch nicht die richtige Ausdrucksform für das ist, was hier so vielschichtig ausgebreitet ist. So klingt am Schluss der utopische Aufruf, durch Selbstübernahme das unfertige Schiff vor dem Abwracken zu retten, wie soziale Träumerei. Die Empfehlung im Absatz zuvor ist wohl doch nicht der richtige Weg!
Die Handlung spielt im nordenglischen Wallsend, Stings Heimat, wo es eigentlich selbstverständlich ist, auf der Werft zu arbeiten. Bei jeder Kiellegung wird das jeweilige Schiff als das „eigene“ verstanden. Die Arbeit daran entfremdet nicht, stärkt vielmehr das Selbstbewusstsein, wie es gleichfalls das Gemeinschaftsgefühl festigt. Jackie White (sehr differenziert Andreas Hutzel) nimmt dabei als ein Vorarbeiter eine starke Rolle ein, gemeinsam mit seiner Frau Peggy (großartig Susanne Höhne), die auf der Werft als Krankenschwester arbeitet. Dieses Paar ist das eine, dessen leidvolle Geschichte hervorsticht, weil Jackie an seiner Krankheit sterben muss und Peggy wie selbstverständlich seine Rolle in der Gemeinschaft resolut übernimmt.
Splitting
Für das andere Paar, für das das im Musical notwendige Happy End vorherbestimmt war, wurde ein seltsames Arrangement getroffen: 13 Akteure hatten 11 Figuren zu spielen, weil zwei Charaktere gesplittet wurden, in einen jungen und einen 17 Jahre älteren. Man kann nicht ganz erkennen, welchen Vorteil das hat, zumal die anderen Akteure beide Altersformen zu gestalten hatten. Die junge Ellen Dawson verkörperte Tina Haas, die Alleinerziehende, dennoch erfolgreich sich Durchschlagende gestaltete Vasilika Roussi. Da beide Schauspielerinnen sich einigermaßen ähnelten, auch in Sprache und Bewegung ähnliches Potential besaßen, mag man das hinnehmen. Anders war das bei den zwei Gideons. Der junge, Heiner Kock, unterschied sich so ziemlich in allem von dem Alter Ego, das Johannes Merz ihm gab. Der sprach auffällig hastig, hatte sich nicht die Beweglichkeit bewahrt, die er als junger Boxer und Tänzer hatte und womit er Meg gewinnen konnte. So bleibt das Wiedersehen nach 17 Jahren durch ihn ungelenk, spröde auch in der Begegnung mit seiner ihm unbekannten Tochter Ellen, der Lilly Gropper eine erfreuliche Jugendlichkeit gab. Vollkommen unverständlich, warum diese selbstbewusste Frau sich dem Davongelaufen ergab. Also doch kein Happy End.
Die anderen Personen gaben Farbe. Jackies alter Kumpel Joe Fletcher (ruhig und fest Stephan Schad) musste ebenfalls sterben. Er hatte selbstverständlich seine Stiefel seinem Sohn vererbt, den er sich nur als Werftarbeiter vorstellen konnte. Er trug wohl Züge von Stings Großvater, der auch Werftarbeiter war. Dann waren da noch Davey Harrison (ansehnlich derb Patrick Nellesen), tüchtig als Zimmermann, aber ebenso als Trinker, und schließlich Billy Thomsen (differenziert Adrian Sanderson). Belesen und intellektuell hervorstechend war er, eher ein Dozent denn ein Werftarbeiter. Auch in ihm steckte viel Sting. Höhepunkt der Inszenierung, die das Musicalhafte damit eindeutig hervorhob, waren die Tanzszenen (Choreografie: Daniel Morales Pérez), besonders die des jungen Paares und eine Aerobic-Einlage der Frauen von überschäumender Vitalität mit Mrs. Dees (Katharina Abt) als exzellente Vorturnerin. Das zündete und ließ Sting im Musikalischen über den ambitionierten Text siegen.
Der Plot
Erzählt wurde die Geschichte zunächst aus Ellens Sicht, später dann in vielerlei Perspektiven. Daraus ergab sich ein buntes, teils reizvolles, teils verwirrendes Mosaik. Eine Person allerdings nur verhielt sich konträr. Es war Fred Newlands, der allein sich der arbeitenden Belegschaft entgegenstellen musste. Während in Koblenz eine Frau aus dem Wirtschaftsministerium ihm an die Seite gestellt war, später sogar ein Polizeiaufgebot, musste in Lübeck ein einziger (etwas steif Sven Simon) sich der Belegschaft entgegenstellen.
Die Inszenierung hatte Malte C. Lachmann übernommen, designierter Schauspieldirektor ab der nächsten Spielzeit. Er schuf Lokalkolorit bereits mit ein paar Projektionen mit Lübecker Atmosphäre, die bereits auf dem noch nicht aufgezogen Eisernen Vorhang flimmerten. Als der sich hob, sah man, dass ihm die halbe Bühne genug war. Er ließ nämlich Ramona Rauchbach die Hinterbühne verstellen. Das tat eine nackte schwarze Wand mit drei Geschossen von übereinander liegenden Balkons mit Gittern aus Stahlrohr. Sie hatte die Anmutung einer Bordwand im Rohbau. Das hatte zwei Effekte. Zum einen war die glatte Wand ein guter Schallreflektor und unterstütze die, die keine Vollprofis im Solo- oder Chorgesang waren, doch differenzierte Sätze zu gestalten hatten. Der zweite Effekt war, dass unten das linke Drittel zu öffnen war. Zwei Interieurs konnten herausgeschoben werden. Das eine war der Treffpunkt aller, Megs Bar, und der zweite der Wohnraum von Joe Fletcher. Seitlich signalisierte ein Poller und ab und zu eine herabgelassene Gangway, dass dort ein Schiff an- oder ablegte.
Stings Musik ist vielschichtig, wurde unter Leitung von Willy Daum und sieben Mitstreitern allerdings immer im Lautstärkewettstreit mit dem Schauspielensemble ausgeführt, hier die Routine instrumentaler Profis vom Klavier bis hin zum Dudelsack, dort die elektronisch verstärkten Schauspieler mit mehr oder weniger Befähigung zum Singen. Was an Mehrstimmigkeit herauskam, verriet viel Vorarbeit und verdiente den Applaus, der auch sonst bewies, dass dieses Musical an der Waterkant ankam.