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August Macke: Farbige Komposition (Hommage à Johann Sebastian Bach). 1912, Öl auf Karton, 102 × 82 cm, Ludwigshafen, Wilhelm-Hack-Museum
August Macke: Farbige Komposition (Hommage à Johann Sebastian Bach). 1912, Öl auf Karton, 102 × 82 cm, Ludwigshafen, Wilhelm-Hack-Museum
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Vor 300 Jahren: Johann Sebastian Bach wollte Organist in der Stadt Händels werden

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Die Geschichte kennt keinen Konjunktiv. Daher verweigert sie die Antwort auf die Frage, was geschehen wäre, wenn Johann Sebastian Bach (1685–1750) vor 300 Jahren an der Jahreswende 1713/14 die Berufung durch den Rat der Stadt Halle angenommen und die vakante Stelle des Organisten an der viertürmigen Marktkirche „Unser Lieben Frauen“ angetreten hätte.

Mit Sicherheit spräche man heute voller Hochachtung von der Bach - und Händel-Stadt Halle und Leipzig müsste sich mit dem Titel einer „Messestadt“ bescheiden. Das Amt des Organisten an der Marktkirche war seit dem Tod von Wilhelm Zachow am 12. August 1712 verwaist. Zachow war der Lehrer des in dieser Kirche getauften Komponisten Händel. Doch Bach nahm die Stelle in Halle nicht an, die „Vocation“ scheiterte nämlich am lieben Geld. Im 1754 erschienenen Nekrolog auf den alten Bach, einem Gemeinschaftswerk seines zweitältesten Sohnes Carl Philipp Emanuel und seines Schülers Johann Friedrich Agricola, die beide am Hof Friedrichs des Großen in Berlin und Potsdam tätig waren, heißt es ziemlich lapidar: „Allein, er fand Urachen, diese Stelle auszuschlagen,“ mehr nicht. Bach stand zu dieser Zeit in den Diensten von Herzog Wilhelm Ernst (1662–1728) von Sachsen-Weimar. 1717 wechselte er als Hofkapellmeister nach Köthen, um dann 1723 das Amt des Thomaskantors in Leipzig zu übernehmen.

Kulturfinanzierung im 18. Jahrhundert

Die Hallenser Ratsherren waren ausgebuffte Pfennigfuchser. Um das Stadtsäckel so lange wie möglich zu schonen, nahmen sie sich bei der Suche nach einem Nachfolger Zachows viel Zeit. Allerdings mussten sie der Witwe für ein halbes Jahr noch den Gnadengulden ausbezahlen. In dieser Zeit wollten sie auf gar keinen Fall einen Organisten einstellen, um nicht zwei Gehälter auf einmal entrichten zu müssen. Als das halbe Jahr vorüber war, starb im Februar 1713 der preußische König Friedrich I. Da Halle zu Preußen gehörte, musste es die vorgeschriebene Landestrauer von sechs Monaten begehen. In dieser Zeit durfte im Gottesdienst keine Orgel ertönen, also brauchte man vorerst auch keinen Organisten. Die Betroffenheit der Ratsherren über den Tod ihres Herrschers dürfte sich deswegen in sehr engen Grenzen bewegt haben. Etwa am Ende der Landestrauer, das mit dem ersten Todestag Zachows zusammenfiel, rafften sich die Stadtväter endlich auf, sich um die Nachfolgefrage zu kümmern.

Da über den gesamten Vorgang nur wenige Dokumente vorliegen, wird vieles für immer im Dunkeln bleiben. Doch soviel steht fest: Ende des Jahres 1713 trug der Rat der Stadt dem Weimarer Musiker die Organistenstelle an, war aber nur bereit, ein Jahresgehalt von 192 Gulden zu zahlen, während Bach in Weimar zu der Zeit schon ein Salär von 210 Gulden bezog. Um 1700 besaß ein Gulden etwa die Kaufkraft von heute 40 bis 50 Euro. Die Umrechnung auf die aktuelle Währung hilft jedoch nicht weiter, da sie ein verzerrtes Bild widerspiegelt. Aufschlussreicher ist der Vergleich mit dem Jahreslohn eines Tagelöhners von damals, der nur auf 30 Gulden im Jahr kam. Bach verdiente also sechs bis acht Mal so viel wie dieser. Für das ihm angebotene Hallenser Jahresgehalt hätte er sich acht Pferde oder 16 Kühe kaufen können, für seine Weimarer Einnahmen sogar zwei Pferde oder vier Kühe mehr.

In seinem „Bach-Almanach“ setzt Martin Petzold den wahrscheinlichen Termin der Reise des Kandidaten von Weimar nach Halle auf den 28. November an. Bach blieb bis zum 15. Dezember in der Salzsiederstadt, wo er im längst nicht mehr bestehenden Gasthof „Zum goldenen Ring“ am Marktplatz 22 logierte. Nach Angaben von Ralf Jacob, dem Leiter des Stadtarchivs, wurde der alte Gasthof 1905 durch einen Neubau ersetzt. Dort waren in der Folge mehrere Behörden und eine Bankfiliale untergebracht. 2002 wurde das Gebäude mit Ausnahme der Fassade abgerissen. Jetzt  befindet sich hier ein Kaufhaus. Der Gasthof war das erste Haus am Platz.

Bach beeindruckte

Da sich Bach nicht tagelang eigenmächtig vom Hof entfernen konnte, liegt der Schluss nahe, dass er sich auf einer Dienstreise befand; der vornehme Gasthof als Quartier lässt darauf schließen. Möglicherweise reifte der Entschluss, sich um die frei gewordene Organistenstelle zu bewerben, erst jetzt in Halle heran. Hier traf er nämlich den Pastor primarius der Marktkirche, Dr. Johann Michael Heineccius (1674-1722), der ihn ermunterte, den Posten zu übernehmen. Bach war nicht abgeneigt, denn die Orgel faszinierte ihn, sie war doppelt so groß wie die in Weimar. Er vereinbarte ein Probespiel, bei dem er nach Angaben des britischen Bachforschers Charles Sanford Terry die Kantate „Ich hatte viel Bekümmernis“ (BWV 21) vortrug, die im folgenden Jahr am dritten Sonntag nach Trinitatis auch in Weimar erklang. Andere Quellen wollen die Kantate „Christen, ätzet diesen Tag“ (BWV 63) ausgemacht haben. Deren Text wird Heineccius zugeschrieben. Auf jeden Fall machte Bachs vorgetragene Kantate, welche auch immer das war, auf die Stadtväter und die Pastoren einen so gewaltigen Eindruck, dass das Kirchenkollegium ihm im Januar mit der Rückdatierung auf den 14. Dezember die Personalpapiere für die Berufung in zweifacher Ausfertigung zur Unterschrift nach Weimar sandte. Der Kanzleibote Tobias Christian Francke überbrachte sie persönlich. In seiner Antwort deutete der Adressat jedoch vorsichtig seinen Rückzug an. Er gab zu bedenken, dass ihn sein Dienstherr noch nicht freigestellt habe und dass das von den Hallensern angebotene Gehalt zu niedrig sei. Er würde sich in einer Woche wieder melden. Der entsprechende Brief ist verschollen oder Bach hatte ihn überhaupt nicht geschrieben.

Unsichere Nebeneinkünfte

Am 1. Februar teilte ihm das Kirchenkollegium in Halle mit, dass eine Aufstockung des Gehalts nicht in Frage käme. Der Direktor dieses Gremiums, Johann Adolf Matthesius (1663-1720), drückte sich allerdings vornehmer aus: „Einen Zusatz zu der Besoldung zu machen sey bey gegenwertigen wichtigen Aufgaben und anderen erheblichen Umbständen bedencklich.“ Matthesius legte trotzdem noch einen Köder aus, indem er auf die Nebeneinkünfte bei Taufen, Hochzeiten oder Beerdigungen hinwies, die er als Hoforganist in Weimar nicht erhalte. Doch das war Bach offensichtlich zu unsicher. Später in Leipzig dachte er darüber allerdings anders. In seiner sehr direkten Art lamentierte er einmal, dass seine Einnahmen in einem Jahr allein aus den Begräbnisgebühren um hundert Taler zurückgegangen seien, weil zu wenig Leute gestorben seien. Er führte dies auf „die gesunde Lufft“ in Leipzig zurück.

Doch in der Zwischenzeit war eine neue Situation entstanden: Sein Herzog erhöhte am 2. März sein Gehalt auf 240 Gulden, bei gleichzeitiger Beförderung zum Kapellmeister. Obwohl er nach seinem Aufstieg in der Hierarchie immer noch unter dem Hofkapell - und dem Vizekapellmeister stand, bekam er ein höheres Gehalt als diese beiden. Mit dem neuen Amt musste er allerdings die Verpflichtung eingehen, alle vier Wochen eine Kirchenkantate für den jeweiligen Sonntag zu komponieren. Als erste erklang am 25. März (Palmsonntag und gleichzeitig Mariä Verkündigung) die Kantate „Himmelskönig, sei willkommen“ (BWV 182).

Die Weimarer Situation

Es war klar, dass Bach auf das höhere Gehalt, das er in Weimar bezog, nicht leichtfertig verzichten konnte, zumal sich seine Familie immer mehr vergrößerte. So kam mitten in diesem Trubel am 8. März sein Sohn Carl Philipp Emanuel zur Welt. Sechs seiner insgesamt zwanzig Kinder von zwei Frauen haben Weimar als Geburtsort. Bachs erste Frau Maria Barbara, die 1720 in Köthen starb, gebar Ende Dezember 1708 Catharina Dorothea. Dem Mädchen folgte am 22. November 1710 der „Stammhalter“ Wilhelm Friedemann. Am 23. Februar 1713 kam Maria Barbara mit den Zwillingen Maria Sophia und Johann Christoph nieder. Es war eine Frühgeburt. Das Mädchen starb noch am selben Tag, der Junge wenige Tage später. Vater Bach weilte am Tag der Geburt auf Befehl des Weimarer Herzogs in Weißenfels, wo seine berühmte „Jagdkantate" (BWV 208) aus Anlass des 31. Geburtstages des dortigen Herzogs Christian uraufgeführt wurde. Am 11. Mai 1715 gebar Maria Barbara als letztes der Weimarer Kinder Johann Gottfried Bernhard.

Absage an Halle

Bach hatte die Vertragsunterzeichnung auf die lange Bank geschoben. Erst am 19. März, 17 Tage nach seiner Gehaltserhöhung und seiner Beförderung, erteilte er den Ratsherren und der Kirche in Halle eine endgültige Absage. Er begründete sie mit der zu niedrigen Besoldung. Man könne von ihm nicht erwarten, „daß mann an einen Ohrt gehen sollte, wo mann sich verschlimmert.“ Und im Übrigen, so die verblüffende Einlassung, habe er sich gar nicht um die Stelle beworben. Vielmehr habe ihn „des Herrn D.Heinecii Befehl und höfliches Anhalten“ dazu genötigt, eine Kantate zu komponieren und aufzuführen. Diese Passage riecht nach einer Rückversicherung seinem Herzog gegenüber.

Musiker-Transfer-Geschäfte

In Halle war man über die Absage Bachs aufgebracht. Die Mitglieder des Kirchenkollegiums argwöhnten, der Hoforganist sei mit dem Rat nur in Verhandlungen getreten, um seinem Herzog eine Gehaltserhöhung abzutrotzen. Mit aller Entschiedenheit verwahrte sich Bach in einem Protestbrief gegen diese Unterstellung. Die Herren entschuldigten sich. Gleichwohl: Ganz unbegründet war deren Vorwurf nicht. Unter Musikern der Bach-Zeit war es nicht unüblich, mit solchen Bewerbungen mehr Geld beim fürstlichen Brotherrn oder beim Rat einer Stadt herauszuschinden. Ein Beispiel: Weil Georg Philipp Telemann als Musikdirektor in Hamburg bei der Stadtregierung eine Erhöhung seines Gehalts nicht durchsetzen konnte, bewarb er sich 1723 kurzerhand in Leipzig als Thomaskantor. Die Leipziger Ratsherren nahmen ihn mit Kusshand auf. Doch als die Hamburger Telemann nun doch die Gehaltserhöhung zubilligten, zog dieser seine Bewerbung in Leipzig sofort zurück. Erst jetzt kam Bach als Kandidat für das Amt des Thomaskantors ins Spiel.

Nach Bachs Absage in Halle ernannte das Kirchenkollegium den Zachow-Schüler Gottfried Kirchhoff (1685-1746) zum Organisten an der Marktkirche. Er war zuletzt Hofkapellmeister bei Herzog Philipp Ernst von Schleswig-Holstein und komponierte dort unter anderem zwölf Violinsonaten, die erhalten blieben.

Die Ratsherren in Halle nahmen Bachs Rückzieher nicht weiterhin übel. Im Gegenteil: 1716, also nur zwei Jahre später, übertrugen sie ihm sogar die Prüfung ausgerechnet der Orgel, die sie für ihn bestimmt hatten. Von dem Orgelwerk ist nur noch der Prospekt erhalten. Die Inspektion des von Christoph Cuntzius (1676-1722) aus Halberstadt geschaffenen Instruments erfolgte vom 28. April bis zum 3. Mai zusammen mit dem Quedlinburger Organisten Friedrich Rolle (1681-1751) und dem Leipziger Thomaskantor Johann Kuhnau (1660-1722). Dass Bach einmal der Nachfolger Kuhnaus werden sollte, hätte er sich damals in seinen kühnsten Träumen nicht vorstellen können. Rolle zählte 1723 ebenfalls zu den Bewerbern um das Amt des Thomaskantors, hatte gegenüber Telemann aber nicht die geringste Chance.

Nicht nur Musik satt

Die Herren Orgelprüfer lebten nicht schlecht: Am ersten Abend hatte man sie im Ratskeller – er stand an der Stelle des heutigen Stadthauses – mit Eierspeisen, kaltem Fleisch, Ochsenzunge, Zervelatwurst und mit Rhein- und Pfälzerwein bewirtet. Als dann einige Tage später die Orgel sorgsam geprüft und mit einem feierlichen Gottesdienst eingeweiht worden war, gab der Rat der Stadt ihnen zu Ehren ebenfalls im Ratskeller ein opulentes Bankett. Die Speisenfolge war kaum aufzuzählen: geschmortes Rindfleisch, Hecht mit Sardellen, geräucherter Schinken, Erbsen, Kartoffeln, Schöpsenbraten, gesottene Kürbisse, Spritzkuchen, eingemachte Zitronenschale, eingemachte Kirschen, warmer Spargelsalat, Radieschen, frische Butter, Kalbsbraten. Mit feinem englischen Humor stellte der Bachforscher Terry fest: „Kein Wunder, dass Bachs Hand nach diesem lukullischen Mahl die Feder nicht ganz sicher führte und ein großer Tintenklecks auf den Namen ‚Bach‘ fiel, als er den Empfang seines Honorars von sechs Talern bestätigte.“

Später Ärger mit einem anderen Bach

32 Jahre später, am 16. April 1746, wurde Bachs ältester Sohn Friedemann Organist dieser Kirche. Eine glückliche Personalentscheidung des Kirchenkollegiums war das nicht. Mit dem ältesten Bach-Sohn gab es nur Ärger.

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