Das Pärnu Music Festival profitiert von der Normalität durch gelockerte Hygiene-Regelungen, die das baltische Land seiner besonders günstigen Corona-Entwicklung verdankt. Eine Reportage von Regine Müller.
Konzerte in der Corona-Zeit sind eigentlich ein zweifelhaftes Vergnügen. Die gähnenden Abstandslücken im Saal, die vorgeschriebene Distanz der Ausführenden auf der Bühne und auf Hochtouren ächzende Klimaanlagen gegen die gefürchteten Aerosole erschweren das musikalische Miteinander, die lebendige und intuitive Kommunikation und den gemeinsamen Atem. Bislang ist kaum Besserung der Regelungen in Sicht, Festivals wie Salzburg gehen demnächst nur mit stark eingedampften Programm, reduzierten Karten und rigiden Test-Bestimmungen für die Mitwirkenden an den Start. Eine Hoffnung weckende Ausnahme aber gibt es doch in dieser fordernden Zeit: Das Pärnu Musik Festival in Estland hat Corona ein Schnippchen geschlagen und unter fast normalen Bedingungen stattgefunden.
Verheißung einer besseren Zeit?
Beim Eröffnungskonzert will man den Augen zuerst kaum trauen: Die Musiker des Tallinn Chamber Orchestra sitzen ohne Distanz auf der Bühne, im Saal trägt niemand eine Maske. Das bereits seit Anfang Mai verblüffend günstig verlaufende Infektionsgeschehen in Estland ermöglicht es seit dem 1. Juni, dass auf den Straßen, in den Restaurants, am langen Traum-Strand und nun auch beim Musikfestival wieder ein fast normales Bild herrscht.
Dirigent und Festivalchef Paavo Järvi entert dynamisch das Pult, das Konzert hebt an mit Arvo Pärts „Cantus in Memory of Benjamin Britten“. Järvi hat das Werk bewusst an den Anfang gestellt, denn es beginnt mit einem feinen Glockenschlag über flüsternden Streichertremoli, die sich zu einem hymnenartigen Sog verdichten. Der geheimnisvolle Glockenton und der intensiv pulsierende Sound sind erlösend für die entwöhnten Ohren, der „Cantus“ wirkt nach den musikalischen Entbehrungen der letzten Monate wie die Verheißung einer besseren Zeit.
Paavo Järvi ist gebürtiger Este und weltweit begehrt, er steht unter anderem dem Tonhalle Orchesters Zürich und der Bremer Kammerphilharmonie vor und leitet nun seit zehn Jahren das Festival im Seebad Pärnu, das in anderer Form bereits fünfzig Jahre besteht und von seinem Vater Neeme gegründet wurde, der schon damals eine Legende am Pult war. Der Järvi-Clan verbrachte stets seine Sommer in Pärnu, bevor die Familie 1980 in die USA emigrierte. Doch Pärnu blieb für die Järvis ein Sehnsuchtsort und so trifft sich der ganze Clan längst wieder jeden Sommer dort. Neeme Järvi steckt ausgerechnet in diesem Jubiläums-Jahr in Florida fest, wird aber unter stürmischen Sympathie-Bekundungen im überwiegend estnischen Publikum beim Galakonzert am zweiten Festival-Tag per Video zugeschaltet und grüßt mit bewegten Worten nach Estland.
Paavo Järvi hatte lange geschwankt, ob er das Festival riskieren solle: „Es ging Schritt für Schritt. Wir hörten uns natürlich um in der Welt, alle sagten ab und die Dinge verschlimmerten sich. Wir hatten trotzdem tägliche Meetings: Was sagt der Gesundheitsminister, wie sind die Prognosen der Regierung?“ Die Lage stabilisierte sich in Estland und bereits Ende Mai kam die gute Nachricht aus Pärnu.
Die Konzerte, der Dirigierkurs und Klassen für Instrumentalisten und Kammermusik laufen nun scheinbar normal. Tatsächlich aber ist es ein tägliches Ringen, berichtet Järvi: „Das Problem ist natürlich, dass wir ein internationales Festival sind, das ist ja unser Prinzip. Und nun hatten wir plötzlich keine Harfe! Eine unserer treuesten Freundinnen ist Jana Bushkova, die große Harfenistin vom Tschech Philharmonic Orchestra. Sie kommt jedes Jahr. Aber nun durfte sie nicht, denn kurz vor dem Festival gingen in Tschechien die Zahlen hoch. Auch Luxemburg war nie ein Problem, aber plötzlich stiegen die Zahlen. Deshalb musste eine Luxemburger Solistin nun erst zwei Wochen in Deutschland sein, um herkommen zu dürfen. Denn Deutschland ist erlaubt, Luxemburg nicht. Also, es ist noch immer ein tägliches Glücksspiel.“
Im Estonian Festival Orchestra sitzen Spitzenmusiker, die Paavo Järvi sämtlich selbst rekrutiert. Er wählt sie nicht nur nach ihren musikalischen Fähigkeiten aus, sondern auch danach, ob sie zum Geist des Ensembles passen, das vergleichbar mit Abbados Lucerne Festival Orchestra auf hohe Eigeninitiative und einen kammermusikalischen Ansatz setzt. Es sind aber auch viele junge Musiker vor Ort, die ein weiteres Orchester bilden, das den Absolventen der Dirigier-Akademie ständig zur Verfügung steht. Die Kurteilnehmer machen hier also keine Trockenübungen mit Korrepetitor – wie bei den meisten Dirigierkursen –, sondern müssen tatsächlich ein Orchester in Bewegung bringen.
In Pärnu gehen alle Aktivitäten nahtlos ineinander über: Unterrichten, Musizieren, Zuhören, Kurse besuchen, Konzerte und Coachings. Paavo Järvi und sein jüngerer Bruder Kristjan leiten den Dirigierkurs, bei den abendlichen Konzerten steht vor allem Paavo am Pult. Ein strammes Programm, das aber laut Paavo „der einfache Teil“ dieser Zeit in Pärnu ist. „Nach der Probe geht man sonst nach Hause. Hier aber gehen alle ins Café „Passion“ bis drei Uhr morgens und diskutieren. Nur junge Leute machen sowas eigentlich. Das hier ist eine Chance, wieder jung zu werden. Für eine Woche…“ sagt Järvi mit der ihm eigenen verschmitzten Selbstironie.
Heitere Leichtigkeit
Das Festival atmet einen besonderen Geist der Kommunikation und eine heitere Leichtigkeit, die selbst im Pandemie-Jahr fast ungebrochen ist. Möglicherweise liegt das auch an der Magie des Ortes, denn Pärnu war in Zeiten der Sowjetunion eine Enklave, in der sich systemkritische Musiker und Intellektuelle trafen. Paavo Järvi erinnert sich, dass es damals zwei beliebte Möglichkeiten gab, Sommerferien zu machen. Die meisten zog es ans Schwarze Meer. „Die anderen Leute, die diese Art von Hitze nicht mochten und lieber in einer Umgebung sein wollten, die kulturell näher an Europa ist, kamen nach Estland. Estland hat nie den Kontakt zur Alten Welt und zur Welt außerhalb der Sowjetunion verloren. Es war der westlichste Ort, zu dem man gehen konnte innerhalb der Sowjetunion. Hier war immer Musik. Und das Gefühl, dass man hier ein bisschen abgeschirmt war vor den Scheinwerfern des KGB.“
Die beglückendsten Konzerte in Pärnu sind die, in denen Paavo Järvi Beethoven dirigiert: Die 1. Sinfonie und das 1. Klavierkonzert klingen in federndem Parlando und mit hinreißender Emphase. Järvi steht mit seinem minimalistischen und maximal effizienten Dirigierstil souverän über den Dingen, denkt in großen Zusammenhängen und versteht es, Beethoven gestisch zu schärfen, ohne ihn auf Krawall zu bürsten, wie es derzeit so beliebt ist. „Alles ist letztlich Kammermusik“ untertreibt er lapidar seine hoch differenzierte und glühende Interpretation. Glückliches Pärnu! Bleibt zu hoffen, dass dieses so privilegierte Festival der glückliche Vorbote einer gelockerten Zukunft ist.