„Die tote Stadt“ passt ausgezeichnet in die helle sängerfreundliche Akustik des Meininger Theaters. In nur wenigen Tagen haben sich die Einspringer Chin-Chao Lin (Musikalische Leitung) die komplexe Partitur und Charles Workman in der schweren Tenor-Hauptpartie des Paul beeindruckend eingearbeitet. Mit Lena Kutzner und Deniz Yetim als Marie und Marietta entwickelte Jochen Biganzoli auf der Bühne dornenreiches Psychogestrüpp. Der Abend ist eine packende Verdichtung von realistischer Filmhandlung und suggestivem Alptraum.
Ein Selbstmord im Kornfeld ... Jetzt hat Erich Wolfgang Korngolds fast-Repertoire-Hybridoper „Die tote Stadt“ auch Meiningen erreicht. Glücksfall. Das Trauma-Spiel über die Unfähigkeit zum Nicht-Trauern des Nerds Paul, seine toxische Frauenvision von der sexbesessenen Tänzerin Marietta und Pauls nekrophile Liebe zur toten Gattin Marie hat der blutjunge Komponist mit einem Total-Super-Eklektizismus rauschhaft vertont. Diese Zwei-Stunden-Oper nach dem Roman „Bruges-la-Morte“ von Georges Rodenbach, zu dem der Vater des Komponisten dem Textbuch unter Pseudonym noch einiges mehr vom kruden Frauenbild der guten alten Zeit beimischte, macht seit ihrer Doppeluraufführung in Hamburg und Köln 1920 Eiswürfel im Kreuz und weiche Knie.
In Meiningen vielleicht sogar noch etwas heftiger als einige gute Produktionen der letzten Jahre zum Beispiel in München, Magdeburg, Dresden. Dabei gab es im Vorfeld Besetzungsprobleme. Michael Siemon und Torsten Kerl traten krankheitshalber von der gefürchteten Protagonisten-Partie des Paul zurück. Dann rettete Charles Workman die Produktion. Geschliffen und ohne Forcieren durchdringt Workman auf souveräner Belcanto-Basis den Klangdschungel der Partitur. Sogar in den Mordshöhen bleibt er richtig gut noch da, wo seinen Kollegen schon lange die Luft ausgeht. Das liegt auch am anderen Einspringer. Der Dirigent Chin-Chao Lin kennt das Haus. Er drängt die Meininger Hofkapelle zu irisierender Transparenz, die nicht immer ein Gegenmittel zu den explosiven Lautstärken sein soll. Denn deren Druck ist ein unverzichtbarer Teil von Korngolds Überwältigungsstrategie. Lin wusste aber auch das insgesamt tolle Ensemble, in dem Workman und in späteren Vorstellungen Torsten Kerl die einzigen Gäste sind, vor den Gefährdungen des instrumentalen Überdrucks zu schützen: Den aufgedrehten Rafael Helbig-Kostka als Frack-Charmeur Victorin, den als Freund und Nachtschwärmer Frank verführerischen Tomasz Vija und Tamta Tarielashvili als hier endlich nicht verhärmte Haushälterin Brigitta. Sie könnte für Paul sogar die richtige sein, hätte er noch Augen für das ‚wahre‘ Leben. Wolf Gutjahrs Bühne ist schwarz mit Konturen aus Neonstäben. Im dritten Akt ziehen vor dem Beziehungskollaps ganze Gruppen schwangerer Frauen auf. Die Komödiantenszene, welche Mariettas manische Erotik wenn schon nicht in die Zote, so doch in die Farce wendet, bleibt eher unauffällig. Katharina Weissenborns Kostüme lassen keine sonderlich hohe Ambition für phantastische Bildsprachen erkennen. Das alles trägt zum hypnotisch Trügerischen der Szenerie bei.
Denn das Knistern, die Obsession, das Leid gibt es in Jochen Biganzolis Regie dadurch erst recht – und nicht zu knapp. Biganzoli zieht den Softskill Horror und die Droge Gefühl aus den schmerzlichen, weil sachlichen Filmbildern der Vorgeschichte in das schwarze Erinnerungstheater auf der Bühne. Im Film sieht man, wie die schwangere Marie bei einem durch Pauls Unaufmerksamkeit verursachten Autounfall ums Leben kommt. Paul gleitet in der kalten Einsamkeit von beider Wohnung aus der Trauer langsam in die Psychose – mit beklemmend kleinen Zeichen wie aus einem französischen Beziehungsdrama. Pauls Seele altert, seine Weltsicht wird tiefschwarz. Während Charles Workman vom Neuanfang singt, jagt sich der Paul im Film (Stefan Willi Wang) zu den letzten lockenden Akkorden die Kugel in den Kopf: „Glück, das mir verblieb ...“
So wichtig ist der Filmprolog, dass er mit dem Lento religioso aus Korngolds Symphonischer Suite op. 39 eine eigene Musik erhält. Das hier zwischen Sentiment und Glätte schwankende Stück exponiert die Klangpole der „Toten Stadt“ wie die Requisiten das Bühnengeschehen. Rosen in Verfallsstadien von der Schnittblume bis zu vertrockneten Blütenblättern – aber auch Fotos von Marie und deren Videoavatar in Schwarzweiß.
Biganzoli modelliert das zermürbende, laszive, eindringliche, lustvolle Beziehungsspiel aus verblüffend einfachen Rückbesinnungen: Er besetzt die laszive Marietta und die elegische, weil bereits tote Marie mit zwei Sängerinnen, nicht mit einer. Beide Frauen begegnen und bekämpfen sich. Sie sind zwei überaus persönlichkeitsstarke Darstellerinnen: Lena Kutzner gibt ein gleißendes Temperamentsbündel, das über alle Widerstände hellstrahlend hinwegwirbelt und hinwegsingt. Auch Mariettas Beichte ihrer frühen Misshandlung und Hörigkeit ziehen kaum bemerkt vorbei. Deniz Yetim als Marie ist dagegen die dunkel glühende und deshalb hypnotisch lockende Facette von Fraulichkeit. Im Sinne psychischer Erregungssteigerung hat Marie in Meiningen mehr zu singen und übernimmt Teile von Mariettas Part. Beide harmonieren auch zum hellen Tenor Workmans.
Für den Pierrot Fritz und sein Lied „Mein Sehnen, mein Wähnen“ gibt es wie früher einen eigenen Sänger (lyrische Übertölpelung durch Johannes Mooser). Einer aus der frivolen Theatergruppe fragt vor diesem über einem synkopisch verzehrten Lauf aus dem Orchester: „Ist das von Wagner?“ Das ist nicht ganz banal, weil man ab da noch genauer in die Partitur hineinlauscht. Korngolds Klangemissionen stauen sich zu undurchdringlichem Psycho-Smog. Der Filmschluss wirkt nicht aufgesetzt: Biganzoli macht mit hoher Plausibilität deutlich, warum Paul nur noch der Revolver bleibt und wirklich alle Träume platzen: die zärtlichen, die sinnlichen, die wehmütigen, die folternden. Ein bewegender Musiktheater-Abend und Ovationen.
Fr 16.09.2022, 19:30 (Premiere) – So 18.09.2022, 18:00 – Mi 21.09.2022, 19:30 – Fr 28.10.2022, 19:30 – Sa 19.11.2022, 19.30 – Do 15.12.2022, 19:30 – So 15.01.2023, 18:00