Man stelle sich vor: Alle deutschen Orchester, Opernhäuser und Festivals würden jährlich einen Komponisten für eine Spielzeit als „composer in residence“ einladen: über 500 lebende Komponisten würden das Musikleben in Atem halten und dem Publikum das Gefühl geben, „am Puls der Zeit“ zu sein. Wird das Publikum beim ersten Zuhören noch nach Anhaltspunkten suchen, so wird es beim zweiten Mal hören, worauf es dem Komponisten ankommt. Hörspuren verdichten sich und es ergibt sich dann das Evidenzerlebnis, das die einmalige Aura des Kunsterlebnisses ausmacht.
Man stelle sich vor: Alle deutschen Orchester, Opernhäuser und Festivals würden jährlich einen Komponisten für eine Spielzeit als „composer in residence“ einladen: über 500 lebende Komponisten würden das Musikleben in Atem halten und dem Publikum das Gefühl geben, „am Puls der Zeit“ zu sein. Wird das Publikum beim ersten Zuhören noch nach Anhaltspunkten suchen, so wird es beim zweiten Mal hören, worauf es dem Komponisten ankommt. Hörspuren verdichten sich und es ergibt sich dann das Evidenzerlebnis, das die einmalige Aura des Kunsterlebnisses ausmacht.In Finnland etwa wird ein „composer in residence“-Programm schon seit 1997 erfolgreich praktiziert: Auf Initiative des finnischen Musikinformationszentrums und mit der finanziellen Unterstützung des Finish Cultural Fund und der Foundation for the Promotion of Finish Music haben über die Hälfte der 27 Finnischen Orchester 52 Komponisten als „composer in residence“ eingeladen. 1999 lief die Anschubfinanzierung aus. Die Zustimmung des Publikums war aber so groß, dass zehn Orchester das „composer in residence“ - Programm auf eigene Kosten fortführen wollen. Nicht weniger als 25 Werke zeitgenössischer finnischer Komponisten wurden in den letzten zwei Spielzeiten uraufgeführt, fünf weitere Uraufführungen stehen aus. Ein „composer in residence“-Programm kann Wunder wirken, nicht nur in Finnland, sondern auch in Lyon, wo in den Konzertsaisons 1997 bis 1999 der französische Komponist Pascal Dusapin öfter aufgeführt wurde als Mozart und dies ohne jede Minderung des Publikumszuspruches.Schauen wir nach Deutschland: drei bis sechs Prozent der Programme deutscher Orchester enthalten Werke lebender Komponisten. Selten ist die „composer in residence“-Stelle, gängiger die sogenannte Sandwich-Programmierung: Zwischen zwei Meisterwerken der Klassik und der Romantik wird ein Werk zeitgenössischer Musik vor der Pause auf das Programm gesetzt. Begründung: damit das Publikum nicht geht. Bei solcher Sandwich-Progammierung ziehen die Zeitgenossen immer den Kürzeren. Wichtig ist, dass die Ohren des Publikums auf die zeitgenössische Musik vorbereitet werden. Der Spielraum dafür ist heute unendlich viel größer als noch vor 50 Jahren, denn die ästhetische Schockwirkung, die von Werken wie dem „Sacre du Printemps“ oder Schönbergs 3.Streichquartett ausgegangen sind, gelten heute nicht mehr. Der neue Spielraum wird momentan nur selten ausgelotet. Die Erfahrung in der Programmdramaturgie und Publikumsdidaktik mit der zeitgenössischen Musik steckt noch in den Kinderschuhen, doch einige positive Beispiele geben Hoffnung, wie zum Beispiel Kent Nagano in Berlin oder Ingo Metzmacher in Hamburg.
Orchester, die innovativ sind, sollten privat und staatlich finanziell gefördert werden. Das schafft Anreize zum Wettbewerb der besten Ideen und Konzepte. Eine Beteiligung der Orches-termusiker an der Programmgestaltung ist wünschenswert. Bisher haben die meisten städtischen und staatlichen Orchestermusiker kein Mitspracherecht. Die Musiker des London Symphonie Orchestra zum Beispiel besitzen ihr Orchester selber, entscheiden über den Chefdirigenten, das Programm und ihr Gehalt. Das schafft ein hohes Maß an Eigenverantwortung und Kompetenz. Ähnlich ist es bei der Deutschen Kammerphilharmonie Bre-men. Es stimmt nachdenklich, dass viele Orchester hier zu Lande keinen finanziellen Spielraum mehr haben, um auch nur eine Auftragskomposition pro Spielzeit zu vergeben. Die Lohnkosten eines Orchesters steigen, die Eintrittspreise können aber nicht dementsprechend angehoben werden. Die Kommunen drosseln die Ausgaben. So kommt es, dass zum Beispiel die Staatsphilharmonie Rheinland Pfalz (Intendant Christoph Caesar) bei einem Gesamtbudget von 16,8 Millionen Mark, 88,5 Prozent für Lohn- und Fixkosten aufwenden muss. Es bleiben nur knapp zwei Millionen Mark für die Honorare der Dirigenten und Solisten sowie für Werbung und Marketing. Für Zukunftsinvestitionen bleibt kein Spielraum. Es geht sogar so weit, dass Orchester sich nicht mehr in der Lage sehen, die bei der Aufführung zeitgenössischer Werke fälligen Leihmaterialien und GEMA-Gebühren zu bezahlen. Eine konservative Programmpolitik ist somit oft aus der Not geboren, jede Mark zu sparen.
Der deutsche Musikrat unterstützt zwar die Wiederaufführung von Werken deutscher Komponisten, die nach 1950 komponiert worden sind, was zu einer Verdoppelung der Aufführungsfrequenz lebender Komponisten in den 80er-Jahren geführt hat, aber internationaler Austausch findet nur bedingt statt. Hier ist der GEMA/SACEM-Fond, der den kulturellen Transfer von zeitgenössischen Werken zwischen Deutschland und Frankreich fördert, ein Schritt in die richtige Richtung. Die Orchester sind aufgerufen mit Unterstützung des deutschen Musikrats, der Kulturstiftung der Länder und anderer Stiftungen, aber auch durch Sponsoren, sich an der Einrichtung von „composer in residence“-Programmen, konzertpädagogischen Stellen und Fundraise-Stellen zu beteiligen. Ist eine Anschubfinanzierung gesichert, dann sind die Chancen, eine neue Dynamik im Musikleben zu entwickeln, sehr groß. Es lohnt die Mühe, lebende Komponisten wieder in das traditionelle Musikleben zu integrieren. Eine jede gelungene Uraufführung ist ein Highlight der Saison (ich erinnere hier an die vier, von Helmuth Rilling in Auftrag gegebenen Vertonungen zum Thema Passion); ein Komponistenporträt-Marathon wie die Ligeti-Nacht des NDR war ein unbestreitbarer Publikumserfolg.
Es gibt viele richtungsweisende Einzelinitiativen, aber sie sind nur wenigen Spezialisten bekannt. Das new classical Forschungsinstitut (NCFI) an der Hamburger Hochschule für Musik und Theater ist 1999 gegründet worden, um Initiativen, die zukunftsweisend und innovativ sind, bekannt zu machen. Das NCFI will helfen, professionelles Know-how zugänglich zu machen.
Neue Ideen entstehen oft dort, wo finanzielle Not herrscht. Hier sind Orchester, wie die englischen Sinfonieorchester, gezwungen, nach vorne zu denken und Lösungen zu finden. Sir Simon Rattle hat mit seinem Birminghamer Orchester viele neue Perspektiven aufgezeigt. Das Abopublikum kann zum Beispiel Patenschaftsanteile an einem Uraufführungswerk erwerben. Das Royal Scottish National Orchestra hat ein innovatives konzertpädagogisches Programm unter Leitung von Paul Rissmann eingeführt, das jährlich 30.000 Kinder und Erwachsene erreicht. Die Orchestermusiker gehen freiwillig und ohne zusätzliche Bezahlung in die Schulen und stellen ihre Instrumente vor, führen in die klassische Musik ein und erläutern zeitgenössische Musik. Über 600 solcher Veranstaltungen finden überall in Schottland pro Spielzeit statt. Das Orchester arbeitet eng mit einem Komponisten als „associated composer“ zusammen.
Der Komponist (zur Zeit der Amerikaner Michael Torke) arbeitet im pädagogischen Programm mit und komponiert für die Kinder. Hier entsteht ein emotionaler direkter Kontakt zwischen dem Komponisten und seinem zukünftigen Publikum, der oft ein Leben lang anhält. Das London Symphony Orchestra baut für 41 Millionen Mark ein eigenes „educational center“, an dem für alle die Möglichkeit besteht, sich die Welt der klassischen und zeitgenössischen Musik zu erschließen.
Auch in den USA, wo es keine nennenswerte Unterstützung von staatlicher Seite für Kultur gibt, findet man einige richtungsweisende Einzelinitiativen: Die New Yorker Carnegie Hall verfügt über ein Budget von 4,2 Millionen Dollar, das zu 97 Prozent von privaten Sponsoren getragen wird. Dieses Budget wird ausschließlich für ein bahnbrechendes konzertpädagogisches Progamm „LinkUP“ unter Leitung von Phyllik Beeson Barbash verwendet. 23.000 Kinder und Jugendliche werden jährlich in den Schulen besucht und 40.000 Kinder kommen in die Carnegie Hall. Auch hier wird der erste Besuch in dem Konzertsaal sorgfältig über Monate vorbereitet. Diese Programme wurden initiiert aus der Erfahrung, dass klassische und zeitgenössische Musik nicht ohne eine Schulung des Ohrs verständlich ist, zumal die Ohren der Kinder zu 99 Prozent an Popmusik geschult sind. Das Ohr muss lernen, den entscheidenden Unterschied zu machen zwischen Popmusik hören, Klassik hören und zeitgenössische Musik hören. Die eine Hörerfahrung ist nicht ohne weiteres auf die andere übertragbar.
Keiner weiß, wie sich die Musikgeschichte in den nächsten Jahrzehnten weiterentwickeln wird. Zur Zeit ist alles möglich. Entscheidend ist, dass eine breite Palette von Partituren verschiedener stilistischer und nationaler Herkunft aus den Schubladen herausgezogen wird. Die aktuell komponierte Musik hat längst den Nimbus des „Schwierigen“ abgelegt. Eine der wichtigsten Aufgaben ist es, die Neugierde beim Publikum für die „Neue Musik“ wieder zu wecken. Dann wird es einen Ausleseprozess geben, der auch unbedingt notwendig ist, um Orientierung zu schaffen. Einige wenige Werke werden im Repertoire bleiben, aber bei den derzeitigen geringen Aufführungschancen verkümmert nicht nur eine ganze Generation von begabten Komponisten, es besteht auch die Gefahr, dass viele Menschen auf eine wichtige Säule des Musiklebens in Zukunft verzichten müssen.
new classical
Das „new classical“-Forschungsinstitut hat sich die Aufgabe gestellt, Denkanstöße zu geben, um das traditionelle Konzertleben zu modernisieren. Ziel des Instituts ist es, erfolgreiche Modelle der Vermittlung Neuer Musik zu untersuchen und weiter zu entwickeln, um junge Menschen für Neue Musik zu begeistern, zeitgenössische Komponisten besser ins traditionelle Musikleben zu integrieren und das Image der Neuen Musik in der Öffentlichkeit zu fördern.
Das Institut ist aus der Überzeugung entstanden, dass eine Hochschule, mit den Ausbildungszweigen klassische Musik/neue Musik, Komposition und Kulturmanagement, sich verstärkt auf der Ebene von Strukturen und Marktmechanismen in einen künstlerisch kreativen Prozess begeben muss, um neue Wege zu beschreiten. Hierzu braucht es den Freiraum zu forschen und neue Ideen zu entwickeln. Derzeit arbeitet das Institut an der Verwirklichung einer umfangreichen internationalen Studie zum Thema Composer in Residence, die durch die GEMA-Stiftung und die SACEM unterstützt wird. Das Institut besteht aus Beirat, Kuratorium, Direktor und stellvertretendem Direktor, die ehrenamtlich tätig sind, die Projektleitung wird von peermusic finanziert. Die wissenschaftliche Arbeit wird von Doktorandenstipendien getragen.