[…] In einem weiteren Kammerkonzert am 17. Juni kam Hindemiths „Marienleben“ Op. 27 für Sopran und Klavier nach der Dichtung Rainer Maria Rilkes zur Uraufführung. Hindemith hat in diesem neuen Zyklus alles rein Illustrative (gegenüber der „Jungen Magd“ z.B.) zurückgedrängt, die Untermalung geschieht in stilisierter, andeutender Form, ganz frei von realistischer Nachahmungstendenz.
Donaueschinger Erstaufführungen
Das Schwergewicht des musikalischen Geschehens liegt fast durchweg in der Singstimme, die Klavierstimme ist meist allgemeiner Stimmungsuntergrund, setzt einige Lichter hie und da auf oder gibt (wie im zweiten Gesang) die festen architektonischen Umrisse einer Passacaglia oder bildet die zarte Umrahmung wie in der „Stillung Mariä mit den Auferstandenen“. Für die Entwicklung Hindemiths scheint mir hier die starke stilistische Einheit der fünfzehn Gesänge, die großzügige, oft herbe und kantige Form seiner Linien und das völlige Freisein seiner Musik von literarischen Einschlägen besonders bemerkenswert. Immer wieder berührt mich das ursprüngliche Musizieren, das Sich-Ausleben (ja Austoben) in Musik, die unglaubliche Vitalität, die motorische Kraft dieser Musik ganz unmittelbar.
Diesen Eindruck vermögen auch Stellen, wo mir der musikalische Strom zu geräuschvoll an zarteren Episoden vorbeirauscht, wo die feineren Gewebe der lyrischen Form (die die Instrumentalmusik im Zusammengehen mit der Singstimme nicht übersehen darf) durch zu starke äußere Mittel zerstört scheinen, nicht wesentlich zu beeinträchtigen; denn Gesänge wie der erste, der fünfte u.a. können nur von einer wirklich großen Begabung geschaffen sein. Die Wiedergabe des „Marienlebens“ durch Frau Lauer-Kottlar und Frau Lübbeke-Job war mustergültig.
H.H., Neue Musik-Zeitung, 44. Jg., 5. Juli 1923
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