Die Auswirkungen und Konsequenzen des Demographiewandels für die Musikkultur waren das Thema eines Kongresses unter dem Titel „Es ist nie zu spät – Musizieren 50+“. Für drei Tage hatte der Deutsche Musikrat Experten zu Diskussion, Workshops und Konzerten nach Wiesbaden und Mainz eingeladen – am Ende verfasste der Kongress die Wiesbadener Erklärung – zwölf Forderungen an Politik und Gesellschaft.
Die Eröffnungsrede im Wiesbadener Kursaal hielt Heiner Geißler. Lädt man jemanden wie den ehemaligen Minister für Soziales, Jugend, Gesundheit und Sport sowie ehemaligen Generalsekretär der CDU als Redner ein, dann darf man sich nicht wundern, nein, dann erwartet man, dass er Klartext redet. Und das tat er auch: „Der Musikrat muss sich politisieren“, lautete seine Kernforderung. Der Bundesminister a.D. stellte die Ideologie unserer Musikkultur vom Kopf auf die Beine. „Man darf die Menschen nicht arm machen“, sagte er und spielte damit auf die „Fallbeil-Mechanik von Hartz IV“ an und auf die vielen Nullrunden bei den Renten. Er konstatierte die real existierende und sich ausbreitende Altersarmut („alt, arm, arbeitslos“), die großen Teilen der Bevölkerung die Partizipation an Kultur unmöglich mache.
Die Menschen hätten aber auch im Alter, und auch ohne zu den privilegierten Schichten der Bevölkerung zu zählen, einen Anspruch auf Teilhabe. Die Ängste vor der demografischen Entwicklung dürften nicht zum Knüppel in der Hand der Neoliberalen werden. (Originalrede im Videostream unter www.nmzmedia.de, Auszüge siehe Seite 44)
Derart eingestimmt besuchten die etwa 100 Teilnehmer des Kongresses drei Panels „Musik in Therapie und Pflege“, „Musikvermittlung 50+“ und „Generationen-übergreifendes Arbeiten“. Impulsreferate oder Filme über Praxismodelle boten den Einstieg in Diskussion und Arbeit.
Tags darauf tagte der Kongress im Mainzer Landtag: Hier sind besonders hervorzuheben der Vortrag des Neurologen und Musikers Eckart Altenmüller, der energisch Positionen entgegentritt – wie etwa der seines Kollegen Manfred Spitzer –, wonach es zu spät sei, wenn man mit 20 Jahren noch kein Instrument erlernt habe. Insbesondere seine Untersuchungen mit Schlaganfallpatienten geben Hinweise auf neue Einsatzmöglichkeiten von Instrumentalunterricht und Musiktherapie in der Rehabilitation. Ein ganz neues Berufsfeld präsentierte Thomas Grosse von der Evangelischen Fachhochschule Hannover unter dem Begriff „Interaktive Musik im Krankenhaus“.
Er konfrontiert Patienten auf freiwilliger Basis mit Musikangeboten direkt am Krankenbett und bildet an seinem Institut speziell Fachkräfte dafür aus. Parallell zu den Arbeitskreisen und Vorträgen fanden in Wiesbaden zwei Orchesterkurse statt, in denen der generationenübergreifende „Ernstfall“ geprobt wurde. Erwachsene Laienmusiker (Bläser und Sreicher) probten und musizierten mit jungen Musikern der Wiesbadener Musik- und Kunstschule (Leitung der Sinfonischen Blasmusik: Bernd Sallwey) beziehungsweise der Wiesbadener Musikakademie (Leitung des Jugend-Seniorenorchesters: Siegfried Köhler).
Nach der Abschlussdiskussion mit Musikratsgeneralsekretär Christian Höppner, Hans H. Wickle, Wolfhagen Sobirey und Ernst Folz wurde unter anderem die Wiesbadener Erklärung präsentiert. Sie bemängelt, dass momentan in Deutschland fast durchgängig musikalische Angebote fehlten, die sich gezielt an ältere Menschen wenden. Auch fehle es meistens an geeigneten Bedingungen für die musikalische Betätigung in den Alteneinrichtungen. In zwölf Punkten wurden nötige Reformen im Bereich der Lehrer- und Musikerausbildung, an den Musikschulen aber auch die Architektur und die politischen Rahmenbedingungen betreffend gefordert. Heiner Geißlers Appell schien bei den Adressaten angekommen zu sein.
Heiner Geißlers Eröffnungsrede unter www.nmzmedia.de
Wiesbadener Erklärung im kompletten Wortlaut: