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Ästhetik, Tod und Weiblichkeit

Untertitel
Interdisziplinäres Symposium in Frankfurt am Main
Publikationsdatum
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Carmen erstochen, Senta ertrunken, Norma verbrannt. Undine verraten, Mimi erstickt, Giselle ein wenig zu heftig getanzt. Die Theatergeschichte koppelt phantasievolle Rollen und dramatische Leidensgeschichten. Vor allem für ihr weibliches Personal hält sie – entworfen von namhaften Librettisten, Choreographen und Komponisten – eine Vielzahl von Todesarten bereit. Im romantischen Ballett, so die Münchener Tanzwissenschaftlerin Katja Schneider, geraten Frauenfiguren meistens in Lebensgefahr, wenn Partner- und Eheversprechungen scheitern und die begonnene Erotisierung sie diskreditiert. Als Geister, Elementarwesen oder Untote kehren diese Frauen im Folgeakt auf die Bühne zurück und nehmen an Männern, die ihren Weg kreuzen, Rache. Inszeniert Ballett das Phänomen Tod bevorzugtermaßen in der Motivkombination Frau, Sexualität und Tanz, so benötigt die Oper ein Äquivalent. Auch diese Gattung entwirft illustre Frauenfiguren und ästhetisiert deren Abschied und Sterben in opulentem Gesang. Der Prototyp steht am Ursprung und bedient sich der Mythologie: Euridices Tod zwingt Monteverdis Orfeo, den Gatten und Künstler, zum Grenzübertritt, und aus dem Anblick der sterbenden Frau erwächst seitens des verbliebenen Mannes wahrlich herzzerreißende Kunst. Edgar Allan Poe hat das Phänomen in seiner „Philosophie der Komposition“ seinerzeit programmatisch benannt: „Der Tod einer schönen Frau ist der poetischste Vorwurf, der überhaupt zu denken ist“. Als Motto des interdisziplinären Symposiums der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt/Main sollte das prominente Bonmot provozieren. Und zwar zunächst Widerspruch und möglichst neue Blickwinkel auf vertraute Autoren und scheinbar harmloses Repertoire. Arnold Schönberg tendierte – infolge privater Krise – programmatisch dazu, Weiblichkeit schlechthin zu diffamieren. Im Zuge einer erhofften ästhetisch-religiösen Erneuerung bean-spruchte er – wie die Germanistin Gudrun Kohn-Waechter den Libretti zu „Totentanz der Prinzipien“ und „Die Jacobsleiter“ entnahm – sogar, Eros und Geschlecht ganz zu überwinden. In erschütterndem Sinne zuendegebracht erschien solcherlei „Erlösungs“-Vision in Vita und Werk Charlotte Salomons. Die jüdische Künstlerin, deren Spur sich in Auschwitz verlor, hatte in ihrem etwa achthundertseitigen Zyklus „Leben? oder Theater?“ bildnerische Darstellung, Texte und partiell auch Melodien in einer einzigartigen Komposition vereint. Doris Hansmann aus Köln analysierte deren biographischen Gehalt und rekonstruierte eine Kette weiblicher Suizide, die mehrere Generationen ihrer Familie ausgelöscht hat. Bei weitem nicht alle Symposiumsgäste argumentierten in Frankfurt so mutig und radikal wie Dietrich Wiederkehr aus Luzern. Der katholische Priester und Mönch trat dafür ein, Themen wie Sterben, Eros und Weiblichkeit zu enttabuisieren. Zugleich verwies er auf die lebensbejahende Botschaft diverser christlicher Kunst und Musik. Die Wiederkehr der Archaik in der Moderne referierte auch Monica Steegmann am Beispiel des Ballets „Le sacre du printemps“. Vermutlich, so Steegmanns These, auch biographisch gefärbt, inszeniert Igor Strawinsky den Ritualmord an einer erwählten, namenlosen Frau kompositorisch unmißverständlich als kollektive Befreiungsaktion.

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