München - Halbzeit für den ARD-Vorsitzenden Wilhelm: Noch ein Jahr lang führt er den Senderverbund. In diese Zeit fällt die Vorentscheidung über eine Erhöhung des Rundfunkbeitrags. Wilhelm hat aber auch noch weitere Ziele. Er will im neuen Jahr eine gemeinsame Video-Plattform mit den Zeitungs- und Zeitschriftenverlagen starten.
Dies habe für beide Seiten Vorteile, sagte Wilhelm in einem Interview der Deutschen Presse-Agentur in München. Die Verlage könnten mit den Videos der öffentlich-rechtlichen Sender ihre eigene Berichterstattung stärken. «ARD und ZDF würden ihre Herkunftsbezeichnung auf den Videos behalten und insofern auch nichts verlieren.» Auch private TV-Sender könnten Teil einer solchen Plattform werden.
Interview mit Ulrich Wilhelm:
Frage: Was haben Sie sich für Ihr zweites Jahr als ARD-Vorsitzender vorgenommen?
Antwort: Mich mit voller Kraft dafür einzusetzen, dass wir auch in Zukunft innovatives und vielfältiges Programm für die Menschen in unserem Land machen und alle Lebenswirklichkeiten abbilden. Dazu gehören neben Information, Kultur und Bildung auch Sport, Fiktionales und Unterhaltung als Teil eines umfassenden und gesetzlich festgeschriebenen Auftrags. Für den ungeschmälerten Erhalt dieses Auftrags werden wir weiter kämpfen. Umso mehr freue ich mich auf Programm-Highlights wie starke Serien und Dokumentationen.
Frage: Zum Beispiel?
Antwort: Im Februar startet zum Beispiel im Ersten die zweite Staffel der Erfolgsserie «Charité» über das weltbekannte Berliner Krankenhaus. Außerdem gibt es einen Themenabend «100 Jahre Bauhaus». Und Heinrich Breloer erzählt das wild bewegte Leben des Jahrhundert-Literaten Bertolt Brecht. Für das BR-Fernsehen planen wir eine Literatursendung mit Thomas Gottschalk.
Frage: Was genau planen Sie da?
Antwort: Es geht um einen neuen Zugang zum Thema Literatur und darum, Bücher einem breiteren Publikumskreis zu erschließen. Dafür wird Gottschalk viermal im Jahr mit Gästen über deren Neuerscheinungen sowie andere Kulturthemen sprechen.
Frage: Herr Gottschalk hat mit allen Sendungen nach «Wetten, dass..?» Schiffbruch erlitten. Was macht Sie zuversichtlich, dass es diesmal anders sein wird?
Antwort: Thomas Gottschalk hat seine Laufbahn beim BR begonnen und ist tief in Bayern verankert. In unserem Hörfunkprogramm Bayern 1 präsentiert er seit Anfang 2017 in seiner «Radioshow» jeden Monat drei Stunden lang die großen Hits der Rock- und Popgeschichte und hat damit einen großen Programmerfolg. Thomas Gottschalk wird in diesem Jahr im Ersten durch das Silvesterkonzert des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks führen. Anschließend moderiert er mit Fritz Egner schon zum zweiten Mal die große Silvesterparty im BR-Funkhaus, die live in Bayern 1 übertragen wird. Ich habe erlebt, dass Thomas Gottschalk unverändert Strahlkraft hat und Menschen mitnehmen kann. Gerade das Thema Literatur verdient ja eine breitere Wahrnehmung. Da wollen wir im BR-Fernsehen ein Zeichen setzen.
Frage: Bertolt Brecht und das Bauhaus sind schon lange her. Erreichen Sie damit auch das junge Publikum?
Antwort: Lange her heißt ja nicht, dass es überholt oder unzeitgemäß ist. Wir müssen vielmehr immer überlegen, wie wir auch solche Themen innovativ für unser Publikum aufbereiten können. Nehmen Sie das digitale Storytelling-Projekt «Ich, Eisner» vom Bayerischen Rundfunk, das die packende Geschichte der Revolution in Bayern von 1918/19 unter den Bedingungen der heutigen Medienwelt erzählt. Hier verschickt Kurt Eisner quasi in Echtzeit Texte, Bilder, Videos und Sprachnachrichten über Messenger-Dienste wie WhatsApp. Das Projekt zählt zu unseren absoluten Spitzenreitern im Digitalen und wird etwa für den Schulunterricht auch von ganz jungen Leuten genutzt.
Frage: Kritiker sagen, an manchen Tagen seien auf ARD und ZDF zehn Krimis gleichzeitig zu sehen. Wollen Sie mehr Anspruch und weniger Krimis ins Fernsehen bringen?
Antwort: In jedem Fall wollen wir eine größere Bandbreite bieten. Das Bild, das Sie von der heutigen Situation zeichnen, ist mir aber zu einseitig. Der Großteil unseres Programms entfällt auf Information und Kultur. Wenn Sie alle Dritten Programme zusammennehmen, macht der Anteil der Kultur- und Informationssendungen sogar rund zwei Drittel aus. Angebote, die es bei den kommerziellen Anbietern so überhaupt nicht gibt. Und auch Unterhaltung ist ja nicht gleich Krimi. Die Verfilmung etwa von «Der Turm» oder «Weissensee» ist bildend und unterhaltend zugleich, hier gibt es keine Trennschärfe zwischen den Genres.
Frage: Sie werben für eine gemeinsame europäische Plattform von Qualitätsanbietern. Aus der Politik gibt es dafür aber bisher wenig Unterstützung.
Antwort: In Frankreich gab es eine sehr positive Resonanz, auch vonseiten der EU in Brüssel. Richtig ist, dass sich die Diskussion in Deutschland noch sortieren muss. Ich werbe für einen ambitionierten Ansatz, der Europa eine Selbstbehauptung im digitalen Raum ermöglicht: eine gemeinsame digitale Infrastruktur, die von unterschiedlichsten Anbietern etwa aus Kultur, Wissenschaft, Bildung und den Medien für die Verbreitung ihrer Inhalte genutzt werden kann, als Alternative zu den Plattformen der US-Giganten. Mitunter wird darüber so diskutiert, als gehe es um ein Entweder-Oder zwischen Regulierung der amerikanischen Plattformen und eigenen Initiativen in Europa.
Frage: Worum geht es stattdessen?
Antwort: Um ein Sowohl-Als-Auch. Natürlich müssen die amerikanischen Monopolanbieter stärker reguliert werden. Sie sind nicht nur neutrale Plattformen, technische Drehscheiben, wie sie von sich behaupten, sondern natürlich auch Inhalteanbieter. Europäische Marktlösungen allein haben aufgrund des großen Vorsprungs der US-Anbieter nicht die Kraft, dem etwas Gleichwertiges entgegenzusetzen. Hier braucht es einen politischen Rahmen. Denn alles, was in Europa an Start-ups erfolgversprechend ist, wird sonst aufgekauft oder in ein Ökosystem der amerikanischen Anbieter eingemeindet, wenn es zu erfolgreich und damit zu gefährlich werden würde.
Frage: Ihr Vorschlag wird oft als «europäisches YouTube» bezeichnet. Trägt der Vergleich?
Antwort: Der Vergleich trägt insofern, als Video aktuell die wichtigste Währung im Netz darstellt und wir auch für alle, die Bewegtbild einer großen Mehrheit zugänglich machen wollen, nur YouTube und Facebook haben. Auch Häuser, die wie wir traditionell eine starke Kraft in der herkömmlichen Medienwelt haben, kommen derzeit um die sozialen Medien und damit die US-Plattformen nicht herum, wenn sie ihr Publikum im digitalen öffentlichen Raum erreichen wollen. Daher plädiere ich für eine europäische Alternative. Mir schwebt eine digitale Infrastruktur vor, über die Qualitätsinhalte angeboten werden können und die den Austausch mit den Nutzern ermöglicht, Elemente von YouTube, Facebook und Google bietet sowie unterschiedlichste Geschäftsmodelle zulässt.
Frage: Fühlen Sie sich dabei von deutschen Medienpolitikern belächelt?
Antwort: Hin und wieder wird das als Träumerei eingestuft. Damit kann ich leben. Wer dies aber abtut, muss eine andere überzeugende Antwort auf die Schlüsselfrage präsentieren: Wie können wir das Entstehen immer neuer Teilöffentlichkeiten und damit die wachsende Polarisierung unserer Gesellschaften abwenden, dieses Maß an Abgrenzung, Hass und Feindseligkeit im Netz, das den inneren Frieden und die Stabilität der Demokratie gefährdet.
Frage: Was ist der größte Widerstand gegen Ihre Idee?
Antwort: Ich fürchte: das mangelnde Vorstellungsvermögen, dass Europa so etwas überhaupt noch leisten kann. Viele haben sich einfach abgefunden mit einer faktischen Vormacht der US-Anbieter.
Frage: In einem weiteren Projekt haben Sie den deutschen Zeitungs- und Zeitschriftenverlagen angeboten, Ihre Bewegtbildinhalte auf eine gemeinsame Plattform zu stellen. Das Echo war ebenfalls verhalten, oder?
Antwort: Teil, teils. Verlage, die selber keine Möglichkeit haben, attraktiven Videocontent zu erstellen, haben uns signalisiert, dass sie für eine solche Initiative aufgeschlossen sind und sie gerne verwirklicht sehen. Aber es gibt innerhalb der Gesamtheit der Verlage noch Diskussionsbedarf. Den warten wir ab. Anders als bei der großangelegten europäischen Plattform-Idee geht es hier jedenfalls um ein Modell, das wir ohne Hilfe der Politik allein mit Bordmitteln, mit den Mitteln aller Beteiligten, realisieren könnten. Vorbild wäre dabei ein Lizenzierungsmodell, vergleichbar mit dem Ansatz der Austria Presse Agentur (APA) in Österreich.
Frage: Wollen Sie das noch in Ihrer Amtszeit als ARD-Vorsitzender umsetzen?
Antwort: Ja, ich würde das gerne verwirklicht sehen, weil ich daran glaube, dass es für beide Seiten Vorteile hat.
Frage: Welche denn?
Antwort: Die Verlage könnten mit diesen Videos ihre qualitativ gute Berichterstattung ergänzen und stärken und dadurch - soweit die Redaktionen das wollen - den hohen Aufwand vermeiden, in diesem Umfang selbst Videocontent zu erstellen. ARD und ZDF würden ihre Herkunftsbezeichnung auf den Videos behalten und insofern auch nichts verlieren. Wir bekämen dadurch eine weitere Anerkennung in der Gesellschaft für die Leistungen, die wir erstellen. Zudem wäre das Modell offen für weitere Partner.
Frage: Auch für private TV-Sender?
Antwort: Auch das Modell in Österreich ist ja durchaus offen für weitere Partner. Grundsätzlich würden wir den Weg mitgehen.
Frage: Die Ministerpräsidenten haben sich Anfang Dezember nicht auf die künftige Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks einigen können. Wie geht es jetzt weiter? Die Länder könnten die Unterhaltung, den Film und den Sport aus dem Programmauftrag nehmen, oder?
Antwort: Das wäre so aus unserer Sicht mit der Rundfunkfreiheit nicht vereinbar. Zumal es wie gesagt auch keine trennscharfe Abgrenzung der Genres gibt. «Charité» ist Unterhaltung, aber auch Bildung und Information. «Babylon Berlin» unterhält hervorragend und transportiert gleichzeitig sehr viel Geschichtswissen über die Weimarer Zeit. Eine solche Veränderung des Auftrags würde zu unlösbaren Abgrenzungsschwierigkeiten führen. Auch Sport ist nicht nur Champions League und Spitzenfußball, sondern auch Paralympics, junge Sportarten, die Breite des Wintersports, Frauenfußball und so weiter. Sport ist Teil des Lebens, ein Integrationsfaktor.
Frage: Was ist, wenn die Ministerpräsidenten sich auch in einem Jahr noch nicht einig sind? Bleibt dann der Status quo bei 17,50 Euro Rundfunkbeitrag im Monat?
Antwort: Die aktuelle Höhe des Rundfunkbeitrags von 17,50 Euro entspricht nicht mehr dem realen Aufwand. Denn wir verwenden heute zusätzlich die Gelder der Beitragsrücklage, die zwischen 2013 und 2016 angespart wurde. Rechnet man diese angesparten Mittel auf die Höhe des monatlichen Beitrags um, dann liegen wir heute schon real bei 18,35 Euro. Diese zusätzliche Rücklage wird bis 2020 gänzlich aufgebraucht sein.
Frage: Das beantwortet noch nicht die Frage.
Antwort: So lange es kein anderes geltendes Recht gibt, bleibt es beim bisherigen Verfahren: Ende April melden wir unseren Finanzbedarf für die Jahre 2021 bis 2024 bei der Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten (KEF) an. Dann müsste im heutigen Verfahren die KEF bis Ende nächsten Jahres ihre Empfehlung abgeben. Am Ende müsste eine Entscheidung der Ministerpräsidenten in 16 Landtagen ratifiziert werden.
Frage: Und wenn ein oder zwei Landtage sagen würden: «Wir stimmen dem nicht zu»?
Antwort: In so einem Fall bliebe als Ultima Ratio die Klärung beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Dies würde freilich eine jahrelange Hängepartie bedeuten. In dieser Zeit könnte nicht ordnungsgemäß gearbeitet werden. Es wäre auch der Respekt vor dem Recht verletzt. Deshalb arbeiten wir mit den Ländern daran, ob es ein gutes faires, alternatives Modell gibt, das die verfassungsrechtliche Vorgabe einer bedarfsgerechten Finanzierung des Rundfunks beachtet.
Frage: Im Gespräch ist ein Indexmodell, wonach der Rundfunkbeitrag entsprechend der Inflationsrate steigt und die Sender mit ihrem Budget freier umgehen können. Das wäre für Sie gut. Hätte das auch Nachteile?
Antwort: Ja, denn wir reden nicht über einen Index, der unsere wahren Kostensteigerungen abdeckt. Die rundfunkspezifische Teuerung etwa, die beispielsweise die Entwicklung der Kosten für Musik-, Film- oder Sportrechte berücksichtigt, lag zwischen 2009 und 2017 bei rund 17 Prozent, während die Verbraucherpreise in diesem Zeitraum um 10,6 Prozent gestiegen sind. Der Unterschied ist beachtlich. Ein solcher Index wäre für uns also eine stetige Schrumpfung. Dennoch könnte ein solcher Index am Ende ein gangbarer Weg sein.
ZUR PERSON: Ulrich Wilhelm (57) ist seit einem Jahr und noch bis Ende 2019 ARD-Vorsitzender. Der gebürtige Münchner ist seit 2011 Intendant des Bayerischen Rundfunks. Als gelernter Jurist und Journalist war er zuvor Regierungssprecher von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU).