Es beginnt schon langsam zu langweilen: Wo man zur Zeit hingerät in diesem Musikleben – auf den Deutschen Musikrat (DMR) wird geschimpft. Und solche Störgeräusche kommen nicht nur von außen. Deutliches Murren ertönt – man fühlt sich an die Äsopsche Fabel erinnert – vernehmbar auch von den inneren Organen her. Ausschussmitglieder nölen, Verbands-Obere nörgeln, Mitarbeiter sind mürrisch, die Landesmusikräte störrisch.
Eine eigentlich kleine Geschiche aus jüngerer Zeit mag den aktuellen Zustand des Musikrats-Präsidiums verdeutlichen: Die Geschäftsführung des Bundesjugendorchesters (BJO) sollte neu besetzt werden. In die Endauswahl kamen je eine Mitarbeiterin der Deutschen Stiftung Musikleben (die sponsert das BJO kräftig) und des Schleswig-Holstein-Musikfestivals. Letztere machte aus fachlichen Gründen das Rennen und sollte vernünftigerweise die BJO-Tournee nach Polen begleiten, um sich einzuarbeiten. Sie wurde wieder ausgeladen, als ein schrilles Veto aus der Stiftungs-Chefinnen-Etage erklang (und verabschiedete sich nicht nur aus diesem Grund, bevor sie die Stelle erst überhaupt angetreten hatte): Man könne es, klang es stiftungsseitig, der hauseigenen Mitarbeiterin doch nicht zumuten, sich mit der siegreichen Konkurrentin gemeinsam auf eine längere Reise zu begeben. Der Vorgang ist so lächerlich wie ungeheuerlich zugleich. Er dokumentiert den hoffentlich nur gedankenlosen Ausverkauf zentraler Werte der Musikratsarbeit durch sein Präsidium.
Natürlich kann man darüber nachdenken, ob „Deutschlands jüngstes Spitzenorchester“ zum Beispiel aus finanziellen Gründen in eine Bertelsmann-Konzernkapelle umfirmiert werden soll. Das aber bitte in einer Expertenrunde samt angeschlossener öffentlicher Diskussion. So wie es lief, bleibt nur der fade Nachgeschmack eines heimlichen faulen Kompromisses mit Signalwirkung, wie bei manchen Musikrats-Tätigkeiten in den vergangenen Jahren. Und die Gewissheit, durch eine kommerziell dominierte Förder-Organisation erpressbar zu sein. Man hat wieder mal klein beigegeben und Menschen schlecht behandelt – schlechte Papiere für eine kulturelle Spitzenorganisation.
Die Missstimmung baut sich wenige Wochen vor der Generalversammlung in Berlin aus vielen Gründen kräftig auf. Das kann heiter werden. Aber die Schuldige ist auch schon ausgemacht: Marlene Wartenberg, die neue Generalsekretärin, seit anderthalb Jahren im Amt. Prima. Da braucht man die Sünden-Schäfin ja nur in die Wüste zu schicken – und alles wird so zigarren-duftend kasino-gemütlich wie früher. Mit solch rückwärtsgewandter Patentrezepts-Mechanik, geboren aus Inkonsequenz, Opportunismus und Klüngelwirtschaft, hat sich der Deutsche Musikrat, vertreten durch das Präsidium, in seine derzeitige Misere gewurstelt. Und die wurzelt leider bereits in seiner Konstruktion.
Von modernen Verwaltungs- oder Management-Strukturen ist der Deutsche Musikrat als eingetragener Verein schon satzungsmäßig weit entfernt. Eine „Geschäftsführung“ im wirtschaftlichen Sinn – also verbunden mit weitestgehender Personal- und Etat-Verantwortung – kann satzungsbedingt nicht stattfinden. Die Entscheidungskompetenz liegt beim Präsidium. Das Präsidium wird zwar von der Generalversammlung gewählt, meist allerdings per offenem Votum auf der Basis eines Wahlvorschlages des Präsidiums. Wer in solchen Ritualen nur den Ausdruck kultur- und vertrauensvollen Umgangs miteinander vermutet, sollte sich mal mit Erich Mielkes Theorie der Mehrheitenbeschaffung befassen.
Diese präsidiale Hierarchie wurde lange Jahre auch genutzt, um Mitgliedsorganisationen, Generalversammlung und Öffentlichkeit von Entscheidungsprozessen fernzuhalten. Sie gerät allerdings umso mehr zur Farce, je selbstbewusster und professioneller sich die Mitgliedsverbände und die Landesmusikräte entwickeln, und je stärker das präsidiale Gremium im Spannungsfeld unausgetragener Konflikte degeneriert.
In freundschaftlicher Absprache mit ihren Präsidenten hatten die Generalsekretäre Herbert Sass und – fast bis zum Schluss im Jahr 1998 auch Andreas Eckhardt – die einfache Möglichkeit, dank „gut vorbereiteter“ Abstimmungen ihre hausgemachten Beschlussvorlagen praktisch einstimmig durchzusetzen. Interessenstränge formierten sich dabei sehr weit im vordemokratischen Feld. Proporz (zum Beispiel zwischen Profis und Laien) war ungefähr so wichtig wie die inhaltliche Qualität, was letzterer bekanntlich schadet.
Das Bündnis für ein geordnetes Musikleben im sogenannten „E-Bereich“ funktionierte wie geschmiert, solange es in der Bundesrepublik eine prosperierende Wirtschaft gab – und ein politisches System, das mit dem Einsilber „Kohl” hinlänglich umschrieben ist. Dabei soll dem Musikrat weder die kriminelle Energie noch die politische Korruptheit dieses Systems auch nur annähernd unterstellt werden. Aber man agierte in einem politischen Klima, das Grauzonen geradezu förderte. Da ist für eine Kultur-Organisation besondere Empfindlichkeit Pflicht. Und so erinnert man sich mit geteiltem Vergnügen an die launigen Rechenschaftsberichte des bestallten Kassenprüfers Bruno Tetzner während vergangener Generalversammlungen: Sie hatten die überaus sympathische Musikalität einer albanischen Buffo-Arie – und auch ihre Transparenz.
Dies enthält keinerlei Vorwurf gegen den zutiefst kulturbewussten Berichterstatter Tetzner, der es im Rahmen seiner ehrenamtlichen Prüfungs-Tätigkeit bestimmt nicht leicht hatte, aus dem ihm vorgelegten Klavierauszug die komplette Finanz-Partitur des Musikrates zu bewerten. Eher soll ein Beispiel für die Problematik aufgezeigt werden, die ein Mischbetrieb aus Ehrenamtlichen und Profis immer mit sich bringt. Es stünde dem Deutschen Musikrat gut an, auch im Sinne seiner Mitgliedsverbände akzeptable Lösungsvorschläge für dieses Konfliktfeld zu entwickeln und im eigenen Haus umzusetzen: Soviel Professionalität wie nötig – soviel Ehrenamt wie möglich, wobei am Verständnis des Ehrenamtes gearbeitet werden muss und an der Professionalität nicht gespart werden darf.
Womit wir bei dem Schlagwort sind, das die Arbeit des Musikrates in den letzten fünf Jahren der Amtszeit Andreas Eckhardts auf schmerzliche Art definiert hat: „Jetzt will Theo Waigel die Musik abschaffen” – übertitelte die nmz 1993 ein langes Gespräch mit dem damaligen Generalsekretär zu Sparplänen des ebenso damaligen Finanzministers. Doch da war es eigentlich schon zu spät für eine öffentlichkeitswirksame Kampagne. Denn der DMR präsentierte sich traditionell als graue Maus. Bis in die letzten Jahre des verstrichenen Jahrtausends hatte man es bewusst vermieden, das Label „Deutscher Musikrat” in der Öffentlichkeit zu positionieren. Das mochte werthaltige Gründe haben, aber zumindest auch einen ganz pragmatischen: Man hatte sich in Bonn mit der dritten, allenfalls der zweiten Entscheidungsträger-Garde zusammengeschmust. Da lief viel auf informellem Wege. Restmittel, Sondermittel, Mittelmaß, mittelmäßige Mittel – aber immerhin. Ministerialräte durften bescheiden entscheiden – wenn es nicht zu laut wurde. Dann wäre der Neid von Ministern geweckt worden. Solche Beziehungen wirken immer beidseitig. Im Maß der Beschränkung auf die „zweite Stimme” blieb der Musikrat bei aller materiellen Absicherung zweitklassig im öffentlichen Konzert.
Ein weiteres Merkmal der Ära Eckhardt, das mit der vorgenannten Bescheidenheit eng verbunden ist, bestand in einem auf den ersten Blick sehr vernünftigen Zustand. Die Projektleiter – „Geschäftsführer” im ungenauen DMR-Vokabular – genossen alle erdenklichen Freiheiten. So entstanden, befördert durch hochmotivierte Mitarbeiter, jedes für sich vorzügliche Maßnahmen-Pakete. Nur mit dem Dach, dem Musikrat, werden diese sinnreichen Aushängeschilder in der Öffentlichkeit bis heute selten in Verbindung gebracht. Deshalb fehlt der starke Hebel einer Gesamtdarstellung der Musikrats-Leistungen im politischen Kräftefeld. Änderungsversuche stoßen zwangsläufig auf erheblichen inneren Widerstand. Weshalb sollte ein erfolgreicher Projektleiter, eine erfolgreiche Geschäftsführerin auch Teile des hart errungenen Profils abtreten. Mit all diesen Verwerfungen befindet sich der eingetragene Verein Deutscher Musikrat in bester Gesellschaft. Ob „Rotes Kreuz”, ob Sportverband: Viele der nach dem zweiten Weltkrieg neu- oder wiedergegründeten Verbände stehen vor einer bedrohlichen Doppel-Problematik. Die emphatischen Gründer-Persönlichkeiten treten ab. Mit ihrer Erfahrung und ihrem Charisma hatten sie Beachtliches auf die Beine gestellt, aber auch manches grundlegende Defizit übertüncht, manch notwendige Reform (aus verschlossen bleibender tieferer Erkenntnis oder aus Gründen des Machterhaltes) verhindert.
Besonders schmerzlich beim Musikrat ist die schleppende Öffnung hin zur sogenannten populären Musik, die inkonsequente Auseinandersetzung mit der Musikwirtschaft, der verzögerte Umgang mit der aktuellen technologischen Revolution, der in papierenen Resolutionen erstarrte Kampf um den Erhalt der musikalischen Bildung auf allen Ebenen. Diese inneren Herausforderungen und Umbrüche allein wären schon schwer genug zu bewältigen – da tritt auch noch eine Zeitenwende auf den Plan – technisch, politisch, wirtschaftlich, menschlich. Nicht umsonst hat sich postmoderne Beliebigkeit der Musik bemächtigt – als Ausdruck eines Wertewandels im Verbund mit tiefer Ratlosigkeit. Geistiges und materielles Eigentum wird neu verteilt. Massenmedien und Computerindustrie definieren gesellschaftliche Parameter um, fordern legislative und exekutive Aktionen, die selbst Profi-Politiker ins Schlingern bringen. Eine Industrie-Kultur greift Raum, die ihre Wertschöpfungs-Kette in der ersten Schwangerschaftswoche startet. Nicht zuletzt gab es in der Bundesrepublik einen politischen Machtwechsel, der uns einen hochintelligenten, der Musik nicht gerade zugewandten Bundeskulturminister bescherte.
Da ist ein starker, ein geschlossener Musikrat gefragt, der seine Leistungen selbstbewusst präsentiert, der seine Forderungen laut und glaubwürdig formuliert. Was bei allem Hoffnung macht, ist die Tatsache, dass eine ganze Reihe von Mitgliedsverbänden des Musikrates „ihren” Strukturwandel erfolgreich hinter sich gebracht haben. Dass sich handlungsfähige, innovative Landesmusikräte formierten mit teils sehr fortschrittlichen inneren Strukturen.
Wenn es diesen Kräften gelingt, bei der Generalversammlung Ende Oktober in Berlin nicht nur Akzente zu setzen, sondern das Dach neu zu decken, dann – und nur dann – wird Deutschlands musikalischer Spitzenverband in der Lage sein, sich den zeitgenössischen Herausforderungen zu stellen. Dazu gehört Mut, aber die Chancen stehen nicht ganz schlecht: Noch nie haben sich in der Geschichte des Musikrates so viele Präsidiums-Mitglieder „freiwillig” verabschiedet wie zum Berliner Termin. Und die – immer noch wachsende – Liste der neuen Kandidaten signalisiert nicht nur einen Generationswechsel, sondern echten Kompetenz-Gewinn. Diese mutigen Heroinnen und Heroen werden wir Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, in der kommenden nmz-Ausgabe, also kurz vor der Generalversammlung vorstellen. Und überhaupt: Fortsetzung folgt.