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Harry Vogt, Produktionskoordinatorin Angelika Maul (2010, Witten). Foto: Claus Langer
Harry Vogt, Produktionskoordinatorin Angelika Maul (2010, Witten). Foto: Claus Langer
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Augenblicke, in denen man neueste Musik einatmen kann

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Der Radiomensch Harry Vogt im Gespräch über seine Arbeit als produzierender WDR-Redakteur
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Seit 1985 ist Harry Vogt verantwortlicher Redakteur für Neue Musik beim WDR. Die Konzertreihe Musik der Zeit, die dieses Jahr ihr 70. Jubiläum begeht, leitet er seit 1998. Seit 1990 ist er künstlerischer Leiter der Wittener Tage für neue Kammermusik. Im Sommer nächs­ten Jahres verlässt er den Sender aus Altersgründen. nmz-Chefredakteur Andreas Kolb nahm dies zum Anlass für ein Interview.

neue musikzeitung: Herr Vogt, was werden Sie vermissen, wenn Sie von redaktionell aktiver Arbeit im Radio Abschied nehmen müssen?

Harry Vogt: Das sind vor allem die Augenblicke des Beginnens, das Erste-Mal: Wenn neue Stücke eintreffen und ich die Noten aufschlage, vielleicht als erster reinschaue. Wie Salvatore Sciarrino einmal, mich beobachtend, sagte: „du liest nicht nur, du atmest die Musik ein“. Dann natürlich der Augenblick, wenn Stücke erstmals erklingen. Nicht im Konzert, sondern in der Probe. Das ist ein Privileg, da – vielleicht als einziger – einem großen Orchester zuhören zu dürfen. Vermissen werde ich hin und wieder auch den Ausnahmezustand, wenn ich an Programmen tüftle, dieses Sich-Vertiefen und -Verlieren, das Hineinstürzen, wenn ich Pläne schmiede, Projekte entwerfe, mir Zukunftsmusik ausmale. Auch die Vorfreude auf Neues, dieses Entgegenfiebern. Und die Nähe zur Kreation, zu spüren, wie etwas entsteht, sich entwickelt und langsam aber sicher Gestalt annimmt.

Vermissen werde ich auch die Anregungen, die ich gerade von Komponist*innen erhalten habe. Nicht nur musikalischer Art. Wenn etwa Nono mich auf das Tschaikowski-Klaviertrio hinweist oder Hespos auf Rachmaninows Vesper. Spannender sind die literarischen Anregungen, die ich hier mitgenommen habe.

Doch das ist die Kür, die leider nicht ohne die Pflicht geht. Und dazu gehört viel Mühsal und Anstrengung. Die redaktionelle Folterkammer hält einiges bereit, das ich garantiert nicht vermissen werde: E-Mail-Fluten, die Jagd nach Unterschriften, Schikanen des Dienstwegs, leidige Vertragstexte, aber auch nervige Latecomer und die Ohnmacht beim Hingehalten-Werden. Das passende Gegenstück dazu ist das wenig entwickelte Verständnis von Orchesterleuten für Innovatives und Unkonventionelles, selbst wenn sie auf der Bühne fast alles, mitunter engagiert umsetzen können: Dieser ständige Spagat ist kräftezehrend, diese Dissonanz zwischen kreativem Tun und öffentlich-rechtlichem Dienst.

nmz: Wann genau ist dieser Abschied?

Vogt: Am 1. August beginnt der sogenannte Ruhestand für mich.

nmz: Gerhard R. Koch hat in der nmz geschrieben: „Das Schlimmste, was engagierter Kulturarbeit zustoßen kann, ist eine Pensionierung.“ Wird es in Ihrer Nachfolge wieder eine*n produzierende*n Redakteur*in geben?

Vogt: Pensionierung ist nur dann schlimm, wenn sie das Ende einer Planstelle beziehungsweise des Engagements einer Institution bedeutet. Im günstigsten Fall wird der Weg frei für eine neue Kraft, die andere Akzente setzt. Kulturarbeit funktioniert nicht ohne Wechsel und Veränderung. Im WDR ist man sich, wie mir scheint, der Bedeutung dieses Engagements durchaus bewusst, auch dass dies einiges an Input, Zuwendung und Kontinuität kostet. Naturgemäß habe ich hier keine Aktien. Ich bin zum Glück nicht in den Prozess der Neubesetzung involviert. Soweit mir bekannt ist, soll es eine Nachfolge geben (was für den einen oder die andere beileibe keine Selbstverständlichkeit ist).

nmz: Gibt es etwas, das Sie Ihrer Nachfolger*in mit auf den Weg geben wollen?

Vogt: Wachsam bleiben und, bei aller stellentypischen Hektik, doch die innere Ruhe bewahren. Die Arbeit braucht viel Mut und Risikofreude, Ausdauer und langen Atem. Man muss da, wo es um Entwicklung und Förderung geht, in größeren Kontexten denken, kann nicht von heute auf morgen planen.  

nmz: Der Rundfunk war lange Zeit ein Leitmedium. Mittlerweile übernehmen immer mehr Streaminganbieter und soziale Medien Funktionen der Kunstkommunikation. Was kann da Radio besonderes leisten?

Vogt: Das Radio ist nach wie vor wichtig für die Neue Musik, die Rundfunksender sind weiterhin in der Pflicht, bieten noch immer eine große Menge und Vielfalt an Sendungen und Produktionen, Konzertreihen und Festivals. Privatfunk, Instagram oder Facebook werden so bald keine Kompositionsaufträge erteilen.

nmz: Wie sehen Sie die Zukunft des Radios und der Neuen Musik in der Welt des 21. Jahrhunderts?

Vogt: Das wird viel zu einseitig gesehen. Es ist ja nicht so, dass nur die Neue Musik den Rundfunk braucht. Das gilt doch vice versa ebenso: Kein Radio ohne Neue Musik – als Antrieb, Frischzelle oder Störfaktor. Umso wichtiger ist es, am Ball zu bleiben, sich nicht allein aufs Abbilden der Projekte zurückzuziehen, die sowieso schon laufen. Der Rundfunk muss weiterhin eigene Impulse setzen, aber auch neue Formen und Formate entwickeln, um Neue Musik zeitgemäß zu vermitteln.

nmz: Was sind die Fähigkeiten, die ein Radiomensch mitbringen muss, um beim Radio gute Arbeit zu machen?

Vogt: Die Kriterien ändern sich – naturgemäß, angesichts dramatisch rückläufiger Ressourcen. Wer mit deutlich weniger auskommen soll, muss sich was einfallen lassen. Heute stehen Vielzweckwaffen hoch im Kurs, die alles können sollen, Generalisten, die in mehreren Genres nicht zuhause, aber einsetzbar sind. Das geht auf Dauer ans Eingemachte. Auf Kosten der Fachkompetenz, die aber unverzichtbar ist, was sich gerade im Bereich Neue Musik besonders schnell bemerkbar macht. Affinität zum Genre reicht da nicht. Doch Radiomensch ist nicht gleich Radiomensch. Bei meiner Stelle geht es nicht so sehr um journalistische Arbeit, sondern in erster Linie um Musikproduktion, um das Generieren von Programm, um Kompositionsaufträge, um das Aufnehmen von Musik im Studio und im Konzert, um Veranstaltungen, die geformt sein wollen, die vom Radio mit hauseigenen Klangkörpern und freien Ensembles durchgeführt und gesendet werden.

nmz: Die ARD plant eine digitale Kulturplattform ihrer Sender unter der Federführung des MDR. Hat die Neue Musik da einen Platz?

Vogt: In diese Pläne bin ich nicht eingeweiht, sie beunruhigen mich aber zutiefst, da die angestrebte Konzentration und Bündelung gar zu leicht auf Kosten der Inhalte und der – auch regionalen – Besonderheiten und Unterschiede gehen könnte. Neue Musik muss, nimmt man den Kulturauftrag wirklich ernst, hier weiterhin einen festen Platz haben.

nmz: Lassen Sie uns über Musik reden: Was klingt von beinahe zweieinhalb Jahrzehnten besonders stark nach?

Vogt: Das ist ein mehr als abendfüllendes, ja buchfüllendes Thema. Wo soll ich da anfangen, wo aufhören? Dazu zählen viele persönliche Begegnungen mit zentralen Figuren der Nachkriegs-Moderne, angefangen bei der Großväter- und Großmütter-Generation, von Ernst Krenek bis Galina Ustwolskaja, oder von David Tudor bis Konrad Boehmer, um mal nicht vermeintlich „große“ Namen zu nennen; die aber waren von Scelsi, Stockhausen, Nono bis Xenakis natürlich auch dabei, die ich alle aus nächster Nähe erlebt habe. Aus der Zusammenarbeit sind viele spannende Projekte hervorgegangen. Es ist schön zu sehen, dass doch einigen der Auftragskompositionen ein reiches „Nachleben“ vergönnt ist: „vortex temporum“, von Gérard Grisey, „in vain“ von Georg Friedrich Haas und Hans Abrahamsens „Schnee“, Salvatore Sciarrinos „infinito nero“ oder Georges Aperghis „Machinations“, Heinz Holligers „Beiseit“, Luciano Berios „Sequenza XIV“, Philippe Manourys „Mode d’emploi“ und Wolfgang Rihms „Fetzen“. Um nur einige zu nennen. Ich freue mich über jede Wiederbegegnung mit Stücken, die aus meinem Beritt hervorgehen, dass sie nicht als Eintagsfliege enden und weiterleuchten.

Nicht so schnell vergessen werde ich aus jüngster Zeit den Ritt über die Ruhr, als wir die Wittener Kammermusiktage gleich zweimal hintereinander coronabedingt unter abenteuerlichen Bedingungen vom Konzertsaal ins Radio und ins Netz verpflanzen mussten. Das war, gerade im Lockdown 2020, als das Reisen extrem eingeschränkt war, eine megalomanische Anstrengung. Die aber unendlich wichtig war – vor allem für die vielen neuen, ansonsten nie gespielten Stücke und für die zeitweise unbeschäftigten Ausführenden.

nmz: Wie viele Produktionen gab es seit 1985 unter Ihrer Leitung?

Vogt: Was sagen, gerade hier, schon Zahlen aus? Aber bitte, meine studentischen Hilfskräfte haben sich die Mühe gemacht und eine schnelle Zählung vorgenommen. Der zufolge sind aus den Produktionen weit mehr als 400 CDs hervorgegangen. Doch das ist nur die Spitze des Eisberges, nur ein Bruchteil der Aufnahmen, die ich fürs Radio initiiert habe, die bislang „nur“ gesendet wurden. Viel wichtiger sind die vielen neuen Werke, die ich, als Geburtshelfer, mit auf den Weg gebracht habe. Das sind dem Vernehmen nach mittlerweile an die 1.000 Uraufführungen, die ich über dreieinhalb Jahrzehnte angeschoben und begleitet habe. Nicht nur für Witten oder Musik der Zeit, sondern auch für Rheinische und Westfälische Musikfeste oder für die Reihe Ensemble Europa. Ein Großteil der hier uraufgeführten Kompositionen ist im Auftrag des WDR entstanden. Aber sind nur „nackte“ Zahlen, hinter denen so viele Geschichten stecken.

nmz: Worauf legten Sie als Kurator besonders viel Wert?

Vogt: Was mir immer wichtig war, ist die Einbindung in die Rundfunkarbeit. Radio ist Ursprung und Ziel: Fast alle Stücke entstehen hier im Auftrag des Senders, werden uraufgeführt und aufgezeichnet, kommentiert und ausgestrahlt. Zentral ist für mich die Idee des Dialoges. Die meisten neuen Stücke sind Früchte eines intensiven Austausches. Übrigens nicht nur mit Komponierenden, sondern auch mit Ausführenden: Ich würde nie ein Stück bestellen, ohne zu wissen, wer es spielen wird; andererseits müssen auch die Komponist*innen ihre „Adressaten“ kennen. Nur so hat Neues eine Chance, bestmöglich auf die Welt zu kommen. Ein „kammermusikalisches“ Prinzip, das sich natürlich nicht aufs Tutti, auf die Orchesterarbeit übertragen lässt, doch da gibt es immerhin den Diskurs mit Dirigenten. Wichtig ist mir stets der Kontext, wie Stücke im Programm ineinandergreifen, sich gegenseitig kommentieren, sich reiben, widersprechen oder ergänzen – jedenfalls sollen sie nicht beziehungslos nebeneinanderstehen. Das gilt vor allem für die Reihe Musik der Zeit, die anders als die Wittener Kammermusiktage nicht nur Premieren bietet. Da mischen sich Novitäten und Repertoire. Und dazu gehören auch retrospektive Blicke auf weniger bekannte Komponisten wie Barraqué, Wolpe oder Hopkins.

nmz: Der WDR hat nach dem Krieg an Geschichte und Zukunft der Musik entscheidend mitgeschrieben. Wird sich der WDR weiterhin zu „seiner“ neuen Musik bekennen?

Vogt: Ganz sicher. Der Wille scheint mir da zu sein, weiterzumachen, an die lange Tradition anzuknüpfen, diese fortzusetzen und – hoffentlich – immer wieder zu erneuern.

nmz: Wie sehen Sie die Zukunft der Wittener Tage für neue Kammermusik?

Vogt: Als ich das Ruder für dieses Festival übernahm, wurde die Existenz des Begriffs, ja des Genres Kammermusik für die Moderne in Frage gestellt. Die letzten drei Jahrzehnte haben gezeigt, wie lebendig Kammermusik ist. Hier passiert viel mehr Innovatives, wozu die großen Tanker, Sinfonieorchester oder Opernhäuser nicht in der Lage sind. Kammermusik ist kein Handicap, sondern Alleinstellungsmerkmal. In der vermeintlichen Einschränkung, der Konzentration, liegt doch die eigentliche Stärke des Festivals. Kammermusik ist das Epizentrum und Experimentierfeld der kompositorischen Entwicklung, auch indem immer wieder die Grenzen zu anderen Genres oder Künsten gestreift und überschritten werden. Viele Initialzündungen kommen aus der Kraft des Kleinen.

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